Sieben Uhr morgens. In Lari, dem 8000-Seelendorf zwischen Pisa und Livorno auf einem kleinen Hügel der Maremma ruft die Kirchenglocke die Leute zum Gebet. Sie ruft auch Dino - ihn allerdings an die Maschine. Mit dem Läuten der Kirchenglocken startet er jeden Tag dieses eiserne Ungetüm, das weltweit Teigwaren-Geschichte gemacht hat. Eine Teig-Maschine, die ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel hat und die auch heute noch die Pasta-Geschichte der "Fratelli Martelli & C." knetet.
Es ist eine Familien-Saga auf der Basis von Hartweizengriess. Und es ist die Geschichte vom Ueberleben der handgemachten Pasta in Italien. Während bis vor 40 Jahren alleine die Provinz Pisa noch 29 Pasta-Hersteller kannte, ist es heute nur noch eine Familie, die hier im Kleinstbetrieb nudelt: die Brüder Martelli und C. Das -C- steht übrigens für "Cognate" - die Schwägerinnen.
Vor 80 Jahren hat Grossvater Guido den Betrieb von seinem Chef übernommen. "Unsere Familie hat seit Generationen in diesem Dorf unterhalb der mittelalterlichen Fstung gelebt", erklärt Dino Martelli, Sohn des Gründers des Pasta-Unternehmens. Mein Vater war Arbeiter in dieser Spaghetti-Fabrikation. Als der Besitzer aufgab, hat er ihm den Betrieb in Raten abgekauft. Schon als kleine Buben haben wir mit anpacken müssen - wir sind quasi in unsern eigenen Spaghetti aufgewachsen ..."
Seit Jahrzehnten waren die Martelli-Spaghetti nicht nur wegen ihrer Qualität sondern auch wegen ihrer Form speziell. Die Teigwaren werden nämlich auf einen Stab gehängt und 50 Stunden auf dem Dachstock getrocknet. So bekommen sie die Form eines langgezogenen -U-s.
"In den 50-er und 60-er Jahren hat die Pasta-Industrie mit ihren immensen Fabriken die Familienunternehmen überrollt. Eigentlich wollte ich nach dem Tod unseres Vaters das Handtuch werfen. Ich hatte einen Job bei den Carabinieri in Aussicht - mein Bruder bei der Moped-Industrie. Aber die Liebe zur Pasta und zu unserer Familie hat uns zusammengeschweisst - wir haben also genau das Gegenteil der Grossfabriken getan: wir haben die Maschinen langsamer gestellt. Und die Zeit in die Pasta einfliessen lassen ...", soweit Dino Martelli.
Mit andern Worten: was die ganze Familie Martelli in einem Jahr an Spaghetti produziert , schafft eine Filiale von Barilla in knapp fünf Stunden mit links.
Die Maschine, welche die Brüder morgens anwerfen würde allerdings auch das dreifache der Produktion erledigen - doch:. "... dies alles auf Kosten der Qualität. Deshalb setzen wir auch auf die Langsamkeit. Die Industrie mischt das Weizengriess mit kochendem Wasser. Allerdings auf Kosten des Geschmacks. Natürlich ist die Produktion so schneller - aber die Pasta verliert ihr Aroma. Wir rühren den Teig mit kaltem Wasser an. Und geben ihn nur unter niedrigstem Druck in die Bronzeformen - die Industrie hingegen lässt die Pasta auf Hochdruck in die Teflonkanülen jagen. Später wird alles innert zwei, drei Minuten maschinell getrocknet - die Sache muss sekundenschnell gehen. Bei uns hingegen werden die Spaghetti zwei Tage und zwei Nächte lang auf dem Estrich aufgehängt, damit der Maremma-Wind sie trocken streichelt ..."
Die Langsamkeit hat ihren Preis - natürlich können die Martellis mit ihren 60 Kilos Spaghetti pro Stunde der Nachfrage nicht gerecht werden. In der Fabrik arbeiten nur Familienmitglieder - insgesamt sieben Leute. Die Schwägerinnen helfen beim Abpacken der Pasta. Alles geht noch von Hand - die Penne oder Spaghetti werden wie einst in das strohgelbe Papier gewickelt.Bei Feinschmeckern ist die "langsame Pasta" der Martellis heute zur grossen Kult-Nudel geworden. Italiens Spitzenköche pilgern ins Mekka der Spaghetti nach Lari, um eine Ladung der begehrten Spaghettini (die zu Fischsaucen am allerbesten schmecken) zu ergattern - und Heinz Beck, der bayrisch-italienische "Koch des Jahres" aus der "Pergola" von Rom hat den Erfolg seiner sagenumwobenen Spitzenküche so erklärt: "Das Geheimnis ist eine gelbe Pasta-Packung aus Lari ..."
Das Geheimnis der Martellis wiederum ist die eigene Zusammensetzung des Weizengriess - "wir beziehen unsere "semola" seit eh und jeh beim selben Müller - und haben dort unsere eigene Mischung aus kanadischem Weizen und Korn aus der Maremma. Der kanadische Weizen ist für das Glutin der Pasta sehr wichtig".
Dazu kommt, dass die Teigwaren aus Bronzeformen gestanzt wird: "Die Grossfabriken nehmen Teflonformen. Das macht das Halten eines Sugos an der Pasta unmöglich. Deshalb hat man auch "Penne con righe " erfunden - also Makkaroni mit Rillen, damit die Nudel den Sugo überhaupt aufnehmen kann. Unsere Makkaroni brauchen keine Rillen - die poröse Form durch die Bronze nimmt jeden Sugo auf ..."
Manchmal müssen Kunden enttäuscht aus Lari abziehen - bei den Martellis sind die Spaghetti ausgegangen. Die Holzkisten mit den "Penne" sind ebenfalls leer - "obwohl wir heute wohl das Hundertfache an Pasta verkaufen könnten, arbeitet unsere alte Maschine noch immer im 1. Gang", lächelt Lucca Martelli, die dritte Generation der Familie. "Und auch heute noch warten die Spaghetti auf dem Estrich, dass der Nordwind sie streichelt. Wir schenken den Gourmets in aller Welt eben nicht einfach einen schnellen Spaghetti-Genuss - wir schenken ihnen das kostbarste, das die Welt heute zu bieten hat: die Zeit."