Seit drei Minuten schon steht er hinter Hildi's Frühstückteller.
Er will abräumen. Er sagt nichts. Aber sie spürt seinen Vorwurf im Genick. Hört sein protestierendes Zungenschnalzen. Und liest seine Gedanken: "Wie kann man nur stundenlang vor einem erkalteten Milchkaffee herumtrödeln ..."
Frau kann.
Die Morgenstunden sind Hildi heilig. WAREN ihr heilig. Bis er eines Tages heim kam. Und blieb.
Mizzi hat sie schon früh gewarnt: "Wenn er pensioniert wird, fängt der Stress erst richtig an. Besorg' ihm einen Hund. Oder such schon mal nach Arsen ..."
Mizzi weiss, wovon sie spricht. Ihr Mann war Prokurist. Als er pensioniert wurde, hat er ihr den Haushalt umgekrempelt und das Haushaltungsbuch neu erfunden.
Wie schön war es damals, als Hildi Hugo jeden morgen mit zwei gestrichenen Mettwurstbroten und einem zarten Klaps auf die Glatze durch die Türe abschieben konnte.
Hörte sie seinen Wagen davonfahren, war es, als ginge der eiserne Vorhang zu ein paar Momenten Freiheit hoch.
Sie mummelte sich als erstes in den alten Morgenrock, den er hasste, weil ein anständiger Mensch "geputzt, gestriegelt und 1 a verpackt" sein Frühstücksei zu begrüssen habe. Das sagte ausgerechnet ER - und wer schlürfte jedes Mal mit Geräuschen wie ein absackendes Gummibrot den kaffeeweichen Gipfel rein? Hildi kehrte es schier den Magen!
"Du musst schauen, dass er ein Hobby aufbaut ...", hatte Mizzi weitere Ratschläge ausgebüchst.
Hugo und Hobby!
Ein Leben lang hat er in einer Advokatur Kunden empfangen. 40 Jahre lang hat er diesen erklärt, wie sie das Geld am sichersten anlegen und die Steuern legal umschiffen können. Er hat mit ihnen Börsenkurse gepaukt wie mit den Enkeln Latein-Vokabeln. Und immer war er für sie da, wie er für Hildi's Frühstückstisch nie da gewesen ist: stets strahlender Laune.
Das Bureau war Hobby. Die herrliche Zeit dauerte so lange, bis ihm Doktor Häberli erklärt hat "Morgen ist der letzte Tag ..." - dies nach vier Jahrzehnten, zwei Jahren und 23 Tagen.
Helga Zimmerli hatte als Sekretärin Hugo's Stunden geteilt. Intrigante Zungen behaupteten immer wieder, sie habe nicht nur seine Agenda in den Händen gehabt. Hildi wäre das nur recht gewesen. Aber Hugo hatte auch dieses Hobby nicht.
Helga Zimmerli organisierte also sein Abschiedsfest. Sie hatten für Hugo gesammelt. Es kam ein Aquarium mit sieben Seepferdchen zusammen. Nach drei Tagen hatten die Seepferdchen ausgaloppiert. Sie schwammen mit dem Rücken nach oben und Hildi seufzte: "Wenn nicht bald etwas geschieht, wird's Hugo denn Seepferdchen gleichtun!"
"Arsen" - flüsterte Mizzi.
"Wie lange brauchst du noch ...?", bellte Hugo seine Gattin nun in die Wirklichkeit zurück.
"Es wartet nichts auf Dich!" träufelte diese Gift in den Dialog.
"Kein Mensch isst so langsam wie Du!", knurrte er nun.
"Du solltest Dir ein Hobby zulegen ..." machte sie auf gütig und Verständnis. "Das hat Mizzi auch gemeint ..."
Er erklärte Hildi, was Mizzi ihm könne. "UND DIES KREUZWEISE!" - schrie er.
Hugo hat sich nach seiner Pensionierung dann nicht einem Hobby, sondern Hildi's Haushalt angenommen. Alles, was sie bis anhin gemacht hatte, wurde in Frage gestellt. Durchdiskutiert. Ausgewertet. Und unter neuem Gesichtspunkt angepackt.
So hat er im Trockenzimmer knapp unter der Decke eine neue Wäscheleine gespannt. Carlotta, die der Familie seit 23 Jahren im Haushalt hilft, soll dort die Vorhänge künftig so aufhängen, dass man diese nachher nicht mehr bügeln muss.
Hugo veranstaltete mit der Hausperle ein Hearing wie einst mit seinen Klienten: "Sie verstehen Carlotta - soooo haben die Vorhänge keinen Falt mehr. Soooo hangen sie gerade. Das erspart Bügelarbeit und Stunden ..."
Als die Vorhänge gewaschen waren, hat Carlotta unter Augenrollen und tausend Verschwörungen nach einer Leiter gesucht. Schliesslich hat sie den Stubentüll zum Waschseil hochgehievt und ist japsend von der letzten Sprosse gekippt. Seit drei Wochen liegt sie im Gips - und statt Carlotta steht nun Hugo hinter Hildi.
"Ich gehe nur kurz aus!", sagt sie.
Und fährt zur Arbeitsvermittlung.
Drei Tage später fängt sie in einer Firma an, wo Couverts im Akkord geschrieben werden.
Hildi streicht sich trällernd ihr Frühstücksbrot. Sie leckt zur Feier des Tages noch ein bisschen Konfitüre aus dem Glas und ruft Hugo vergnügt ins Bad "Vergiss nicht Küchenpapier einzukaufen - und die Bettwäsche muss gewechselt werden!".
Diesmal geht Hildi aus dem Haus.
Und es ist, als ginge der eiserne Vorhang wieder zu ein paar Momenten Freiheit hoch ...
-
P.S. Hugo schaut aus dem Fenster Hildi nach. Er holt sich den Bademantel. Lümmelt zum Frühstückstisch. Angelt sich einen Gipfel und taucht ihn in den Milchkaffee. Dann zieht er den durchweichten Teig genüsslich schlürfend ein.
"Na endlich", seufzt er.