Der erste Eindruck von Turin ist wie ein trüber Wintertag: kalt. Grau. Und diese melancholische Tristezza, die man in all diesen Städten findet, wo der Glanz vergangener Epochen wie eine Opferkerze erloschen ist.
Der zweite Eindruck von Turin ist süss, wie das Schlaraffenland und verfressen wie Lucullus. Immer wieder stellt man sich die Frage: " Fiat-Town? Autostadt? - Hier geht doch alles zu Fuss!".
Stimmt. "Il cuore", das Herz von Turin ist eine Spaziergänger-Oase. Die Baumeister des Barocks haben Arkaden komponiert. Auf traumschönen Steinböden , die schon Niezsche als "Wolken für die Füsse" besungen hat, lässt es sich 18 Kilometer unter den Bögen wandeln.
Im Mulassano, diesem traditionellen Caffè an der Piazza Castello 15 setzen wir uns an eines der vier Marmortischchen. Eine heisse Schokolade ist genau das richtige im Winter. Und für Schokolade sind die Turiner mindestens so berühmt wie für ihre historischen Caffès. Vom Savoyer-Herzog Emanuele-Filibeto ist im 16. Jahrhundert nicht nur die "cioccolata calda" im Piemont eingeführt worden - in Turin wurde auch die erste Tafelschokolade der Welt verpackt.
Der Kellner des Mulassano's stellt das dampfende Getränk vor uns hin. Von Trinken ist keine Rede. Man löffelt die "cioccolata". Ihre Konsistens ist so dick wie ein Pudding. Ihr Kaloriengehalt? - Na ja. Kalorien sind in Turin eh kein Thema. Diese Stadt, die ihren Gästen den Apéro mit so grosszügig mit verschiedene Pizze und fingernagelgrosse Tramezzinni, Blätterteig-Variationen und eingemachte Oliven kredenzt - einer solchen Stadt laufen Herz wie Platten über ...
Das Mulassano, kaum grösser als acht Schuhschachteln ist eines dieser unzähligen historischen Caffès, die man heute in Wien ,Berlin oder anderswo in Europa in dieser üppigen Pracht vergeblich sucht. In Turin gibt's mehr als ein Dutzend davon. Und in jedem dieser Salons atmet der Besucher auch heute noch diese majestäische Epoche "alla Grande" , als die Stadt (allerdings nur für zwei Jahre) Kapitale Italiens war und sich französische Noblesse mit Italienischer Grandezza paarte.
Das älteste Caffè ist das Bicerin an der Piazza della Consolata 5. Bereits 1763 hat es erstmals seine berühmte Spezialität serviert: eine Mischung aus Kaffee, heisser Schokolade und Milchschaum. Das "Baratti & Milano", kaum einen Steinwurf vom Mulassano entfernt, dürfen vor allem Jugendstil-Fans nicht verpassen. In seinem Innern und im "Sommer-Pavillon" der angrenzdenden, traumschönen Gallerie mit den Glasdächern sind zahlreiche Filme gedreht worden.
Alle diese Turiner Caffès sind nostalgische Trauminseln aus Marmor und Spiegeln - umfunkelt von uralten Lüstern und Geschichten.
Auf der Piazza San Carlo, diesem prächtigsten "Salotto" der Torinesi , stösst der Besucher gleich auf vier dieser alten Caffès, vor allem aber finden Schleckmäuler hier das "Stratta", ein Wunderland des Zuckers. Mindestens so berühmt wie für seine Schokolade ist der Piemont nämlich auch für seine zuckrigen "Sorprese" - nicht umsonst haben die "Kinderüberraschungen" ihr Ur-Ei im Piemont.
In den Zuckerläden wie "Stratta", "Avvignano" oder "Gertosio" werden Rosmarin und Koreander kandiert , Minzenbläter und Veilchen verzuckert und Fenchelblüten oder Peperoncino dragiert. Fasziniert betritt man eine Welt, die im Zucker der Belle-Epoque erstarrt ist.
Natürlich ist der Piemont nicht nur für seine süsse Seite berühmt - in den letzten zwei Jahrzehnten haben Weine und weisse Trüffel Gourmet-Touristen aus aller Welt angelockt. Wer sich jedoch das richtige Bild von der Fülle regionaler Köstlichkeiten machen will, der sollte sich früh morgens den würziogen Wind einer Porta Palazzo um die Nase wehen lassen. Auf dem pitoresken Turiner Grossmarkt werden alle diese Rohprodukte angeboten, welche schliesslich das köstliche "Bollito misto", die Agnelotti mit der Spargelfüllung oder die legendäre "bagna caoda" ausmachen. Bis Februar noch werden von den Marktweibern die Trüffel grammweise zum Goldpreis abgewogen - doch aufgepasst! Viele dieser Trüffel stammen aus Jugoslawien, Umbrien oder der Maremma. Den wirklich einzigartigen Geschmack haben nur die Kugeln aus der Gegend von Alba (zwischen November und anfangs Januar ist ihr Duftbouqet am intensivsten).
Vom Markt ist es dann nur noch einen Katzensprung in eines der urchigsten und typischsten Turiner Quartiere: das "Balon". In den engen Gassen betreiben Handwerker ihre Werkstätten. Flohmarkt-Händler preisen lautstark Kostbares, weniger Kostbares und viel Imitiertes an. Dezenter sind da die Arkaden der Via Po mit ihren zahlreichen Buch-Antiquariaten oder die Via Roma, wo die Labels aller Welt ausgestellt sind.
Rund um die Mole Antonelliana stösst der Bummler auf Handschuhmacher und uralte Hutgeschäfte, auf Stiefelanfertiger und Hemdenschneider. Und a propos Mole: sie ist der Eifelturm Turins, das Wahrzeichen der Stadt. Eigentlich hätte das Ganze eine Snagoge werden sollen - als die Stadt dann das Monument 1889 einweihte, war es mit 167,5 Metern das höchste Gebäude Europas.
Der Besuch auf der Plattform der Mole ist ein "muss". Ein gläserner Fahrstuhl zurrt die Besucher innert Sekundenschnelle durch das Innere des Italienischen Film-Museums - vorbei an Marylyne Monroe und Ben-Hur jagt der Passagier himmelwärts und hat schiesslich einen traumschönen Ausblick auf die Stadt wie auch auf die Schneeberge im Hintergrund - diese Berge, die Turin zur Olympia-Stadt machen.
Nachdem die Herzöge von Savoyen jahrhundertelang die Turiner geprägt haben, war es um 1920 Gianni Agnelli, welcher der Stadt seinen Stempel aufdrückte. Er baute mit Fiat ein eigenes Imperium. Als seine Geschäfte nur noch im Rückwärtsgang fuhren, hat der "Senatur" dennoch weiter gewirkt: er liess 1991 die alte Fabrik im Lingotto von Renzo Piano zu einem multifunktionellen Zentrum umbauen. Heute sind hier nicht nur das Automobil-Museum und 2 Hotels sowie ein Ort für Kongresse und Messen , man besucht auch Agnelli's Vermächtnis an die Stadt, seine Privatsammlung im eigens dafür konstruierten Museum - eine Kollektion, die wohl schöne Canaletti zeigt, die aber mehr noch durch Renzo Piano's Architektur besticht. Das Spektakulärste ist der gläserne Aufzug, der die Besucher auf die alte Auto-Rennrampe der Fiat führt. Hier liegt uns Turin zu Füssen - mit einer traumschöne Aussicht auf die Kulisse der Winterspiele 06.
Allerdings :die eigentlichen Winterspiele Turins finden dann ausserhalb der Stadt, rund um Sestiere statt. Auch Sestiere ist ein Kind Agnellis. Der Ski-Ort ist 1930 mit seinem Geld aus dem Schnee gestampft worden.
Immerhin - auch "la città" bereitet sich auf die Spiele vor. Die Chocolatiers und Zuckerbäcker haben bereits Goldtaler und Olympia-Gianduiotti im Angebot. Die neue "Metropolitana" legte jahrelang die Piazza San Carlo lahm. Und etwas ausserhalb des Centro, in Agnellis Lingotto, wachsen Olympia-Häuschen wie Pilze aus dem Boden. Dennoch - gross herausgeputzt hat sich die Stadt nicht. Gottlob. So bleibt ihr verschlafener, fast morbider Charme erhalten.
Übrigens: in Turin selber finden an den grossen Spielen nur die Eis-Sportarten sowie die Siegerehrungen statt. Und natülich: das "savoire vivre" davor und danach - eine Disziplin, welche die Turiner eh für sich entscheiden werden.