Von Adelbodner Erinnerungen und Vaters Mucheli im Trog

Dienstag - Räume mit Innocent das Adelbodner Chalet.

Vater ist überall.
Seine Skischuhe stehen noch vor dem Haus. Sein Gehstock ist an die Türe gelehnt. Sein Kaffee-Mucheli, in das er jeden Morgen die Gipfel eingetaucht hat, liegt noch in der Spüle.
TIEF DURCHATMEN. UND LOS GEHTS.
Ein Leben wird in Abfallsäcke verpackt. Und ich spüre wieder diesen Klotz im Hals, den ich schon damals hatte, als er mich im Spitalbett fixierte: «Das ist das Finale? ich habe keine Angst?»
ER HATTE NIE ANGST. NUR UM SEINE NÄCHSTE UMGEBUNG.
«Nimm dir ein Beispiel an ihm?», sagt Innocent, der Vater in die Hand versprechen musste, dass er immer für mich sorgen würde.
Ich glaube, mein Vater hat bis zu seinem letzten Atemzug um mich Ängste ausgestanden.
«Nicht lebenstauglich?», hat er einmal einem Freund seinen Sohn geschildert: «? einfach ein verlorenes Huhn. Man muss immer auf ihn aufpassen?»
Nun schaut mich Innocent also streng an: «Nimm dir ein Beispiel an ihm?»
Diesen Satz habe ich immer wieder gehört. Besonders in Adelboden. Hier ist mein Vater über alle Berge, hat kein Risiko gekannt und nicht nur beim Skifahren in den Neuschneegebieten Lawinen ins Rollen gebracht.
«EIN MANN OHNE FURCHT UND TADEL?», haben die Bauern im «Bären» über ihn geredet. Und an ihren Tabakpfeifen gesaugt. Dann war da eine lange Schweigepause. Wieder ein Saugen. Und: «Aber sein Sohn?»
Das «verlorene Huhn» blieb im Rauch hängen. Man hörte nur noch ein Räuspern. Und: «Der arme Vater? das hat er nicht verdient?»

Mittwoch - Hier in Adelboden versuchte mich mein Vater lebenstauglich zu machen? zu stählen. Ich wurde um vier Uhr morgens auf den Wildstrubel geführt. Mit zehn Jahren.

Ich lag auf der Lohnerhütte im Stroh - die Halme kratzten im Genick. Und um mich herum schnarchten ein Dutzend Männer. Um fünf Uhr in der Früh musste ich mich draussen am Trog waschen. Das Wasser war eiskalt - und: «Schau dir die Berge an», versuchte mich Vater heiss zu machen.
Ich dachte: «Weshalb haben andere Kinder Väter, die Briefmarken sammeln? Und ihre Brut friedlich ausschlafen lassen?»
Ich haderte mit meinem Schicksal. Und wenn ich wie eine Fliege am Fels klebte, wenn ich nicht nach unten schauen konnte, weil sich da alles drehte und Vater mich schliesslich wie einen Sack Kartoffeln am Seil hochzog - da heulte ich in mich hinein. Und verwünschte ihn samt wunderbarer Natur, die kleinen Hühnern gegenüber so grausam sein konnte.
«Die Natur ist immer grausam - das wollte ich dir eigentlich zeigen?», sagte Vater auf dem Gipfel. Und holte Schokolade aus dem Rucksack: «Die hast du dir verdient?»
Aber nicht einmal die Schokolade konnte mich mit der Natur und meinem Vater in solchen Momenten in Einklang bringen. Ich war nicht für Felswände und Bergtouren geschaffen.
«Ehhh - de Hopusipeter?», holt mich eine Stimme aus meinen Träumen. Ich stelle hurtig Vaters Mucheli ins Spülbecken zurück. Und schüttle Pieren Edis Hände. Der Nachbar ist mit einer goldenen Butterkugel aufgetaucht. Und balanciert einen Krug: «Isch de frische Miuch vo dr Lysette? si chunnt de ou hurti verby?»
Dann schaut er auf Vaters henkellose Tasse: «Är fäut-is de scho?»
Ja. Er fehlt. Und doch ist er überall da. Tausende von Erinnerungsfotos kommen in die schwarzen Säcke. Tausend Mal Vater und die Berge - in Multicolor.
Ich entsorge seine Vergangenheit.
Schliesslich nehme ich einen Schluck von der frischen Milch. Sie schmeckt, als würde man in Rahm beissen. Und ich schenke mir nochmals nach.
Edi schaut stolz: «Schmeggt de schu es schutzi angerscht ass i dr Stadt?»
«Ja», sage ich.
Und plötzlich sind meine Augen voller Tränen. Sie kullern über die Backen. Pierens Edi steht verlegen wie machtlos vis-à-vis - und Innocent klopft mir auf die Schultern: «Nimm dir ein Beispiel an deinem Vater?»
Ich schneuze in ein Küchenpapier. Entsorge das Mucheli. Und schaue die beiden Männer fest an: «Nein. Ich lebe mein eigenes Leben.»
Edi zuckt die Schultern: «Ehh - muesch doch nüt briegge? u de das schöne Mucheli kaputtschlaa? das hätt-y dr Ätti nit gääre kaa?»
Dann schnüre ich den 35. Kehrichtsack zu. Man kann die Vergangenheit, aber nicht die Erinnerungen entsorgen.

Donnerstag, 11. Mai 2006