Von der Zeit, die nicht mehr ist

Montag - Die Zeit ist «hipp».

Die Zeit ist «mega».
Die Zeit ist «giga».
NA JA - JEDENFALLS IST SIE SPRACHMÄSSIG MEGA-GIGA-SPANNEND.
Es gibt nämlich gar keine Sprache mehr.
Auch kein Akkusativ.
PARDON. NATÜRLICH: KEINEN AKKUSATIV. Es genügt, wenn er im Fernsehen verloren gegangen ist. BEI UNS SOLL ER NOCH WEITER AKKUSAKTIVIERT WERDEN.
Halleluja. Es ist die Zeit der Befreiung, der blassen Fritten mit Chicken-Nuggets und der Seifenopern.
Eine Zeit, die ihre Opern aus Seifen schäumen lässt, hat nichts Besseres verdient.

Ich will nicht klagen. Ich mein ja nur: Aber irgendwie haben wir doch irgendwo und irgendwann unsere Lebensqualität verloren.
Wer im Zeitalter von Akkusativ, Sonntagsbraten mit hausgemachtem Kartoffelstockberg (mit Peterlibouquet als Gipfelerlebnis drauf) aufgewachsen ist, dem tropft die Mayo immer vom Jumboburger auf die Weste und versaut ihm den Tag. Ich meine: WER EINST MIT GABEL UND MESSER GEGESSEN HAT, KANN NICHT SO SCHNELL DEN AFFEN MACHEN.

«Ach du liebes Kollosseum - ihr und eure gute alte Zeit», seufzt mein Göttibub Oliver. Er trägt eine hippe Wollmütze mit diesem Label drauf, das zeigt, dass er für die Mütze 2000 Mal mehr ausgegeben hat, als die fleissigen chinesischen Kinderhände, die sie gestrickt haben, je in ihrem Leben ausgeben können.
«Wir findens jedenfalls geil... Ihr alten Rummieser seid noch nur neidisch, weil ihr statt einen coolen Joint dieses Viagra lutscht und...» VIAGRA!

Auch so ein neuzeitlicher Mist. Mein lieber Vater hat noch auf die stärkende Wirkung der Ringelblumen geschworen. Ganze Matten davon hat er ausgekocht. Das Konzentrat wurde mit Melkfett vermischt - UND AB DIE POST. Jedenfalls wusste mein lieber Papa, was er tat. Und seine Frauen wussten es auch. WEISSGOTT.

Da braucht es kein Viagra für.
«Na - heute haben wir den Hanf und den Fun mit der Party-Pille. Ihr hattet früher einfach nur euer Bier. Die Frau Wirtinnen-Verse. Und Polizist Wäckerli...»

ICH SCHWEIGE. Denn jedes Wort macht mich drei Milchstrassen älter. Deshalb: Elizabeth Ardens Anti-Runzel-Creme aufstreichen. Überlegen lächeln. UND SCHWEIGEN.
«Es ist für mich okay» - sage ich nur. Diesen flotten Satz habe ich in der Selbsterfahrungsgruppe zum Thema «Erkenne dich in deiner neuen Welt» gelernt.

Mittwoch - Das mit der Technik ist auch so ein neuer Zauber.

Ich meine: Früher hatten wir ein einziges Telefon für das ganze Haus im Gang.
HEUTE?
Knopf im Ohr. Und immer einen drin.
Als ich gestern Grethchen anrufen wollte, ein Zwanzgerli aus dem Portemonnaie knübelte und in der Telefonzelle dann vergeblich stundenlang nach dem Einwurfschlitz suchte - ALSO DA SAH ICH EINMAL MEHR SEHR ALT AUS - SEHR, SEHR ALT in einer Zeit, wo ein Gespräch mit Grethi längst so viel kostet wie ein Hin- und Rückflug nach Mallorca.

Ein lustiges, junges Girl mit gepiercter Vorderschaufel und beneidenswerten lindengrünen Strähnen in der verfilzten Frise (wie schreibt der kluge Korrektor so etwas in Neudeutsch?) - also: Ein funny Girl hielt mir unverkrampft ihre Postcard hin: «Versuchs mal damit, Alterchen - sonst treibst du da noch Wurzeln!» UND DAS WAR DOCH NETT. Denn nett, das sind diese Jungen wirklich. Auch wenn die Schulhöfe das Gegenteil behaupten und das Durchschnittsalter des Wachpersonals in den Gefangenenlagern von Guantánamo die 30 nicht überschritten hat...

Ich plaudere also auf Kosten des Strähnenmädchens mit meiner Freundin nette Sätze. Und Grethchen macht sofort auf Mutter Theresa: «Aber du wirst doch dem armen Kind etwas an dieses Gespräch berappen... Die Jungen haben heutzutage kein Geld mehr und...»

HATTEN WIR JA AUCH NIE. Dennoch: Ich salbe also die Finger mit den Totenköpfchen auf den schwarzen Nägeln mit einem Zweifränkler, und was höre ich: «Wenn du mich anmachen willst, du Runzelpflaume, musst du schon deine grosse Vuitton-Brieftasche zücken.»
NA IMMERHIN. SIE KENNEN WENIGSTENS DEN GUTEN ALTEN LOUIS NOCH...

Freitag - Ich vermisse Linda an allen Ecken. Seit ein Tram sie mitgerissen hat und ihr dasselbe Schicksal wie meiner Mutter widerfährt, ist Stille im Haus. Leere.

Ich vermisse ihr Herumgebabbel, ihren Zigarettenrauch und ihr notorisches Gestänker.
Ich stehe an ihrem Spitalbett. Und es kommt keine Antwort.
Linda war auch ein Teil der guten, alten Zeit - meiner guten, alten Zeit.
Die Krankenschwester versucht mich zu trösten: «Die Zeit heilt Wunden...» Nein. Das tut sie nicht.

Donnerstag, 23. März 2006