Vom Alpaufzug und Kornblumen im Haar

Dienstag - «ALPAUFZUG», seufzte Innocent verklärt beim Morgenrot.

Dabei bekam er diesen Blick, als hätten die Sterne das Dollarzeichen.
«ALPAUFZUG - WEISST DU EIGENTLICH, WAS DAS BEDEUTET?»
Ich weiss es.
Tonnen von Fliegen!
Tonnen von Mist.
Seit mir mein lieber Vater in Adelboden diese kleine, geschnitzte Holzhütte, die er in seinem Testament «das Chalet» nannte, hinterlassen hat, erfindet mir Innocent das Berner Oberland jeden Tag aufs Neue!
Es reicht nicht, dass ich als armes, geschundenes Kind auf alle diese Berge rund um die Holzbude geprügelt wurde. Nun muss ich diese Schattenwerfer auch noch mit Namen kennen lernen. Innocent hat sich eine Panoramakarte gekauft. Und ist nun mit jedem Gipfel auf Du?
«Wildstrubel - das ist ein guter Berg!»
WESHALB SOLL DER WILDSTRUBEL EIN GUTER BERG SEIN?
Ich beurteile einen guten Berg danach, ob er mit dem Auto zu erreichen ist. DER WILDSTRUBEL IST ES NICHT. Also: SCHLECHTER BERG!
«? und der Lohner hat gar eine Hütte vor dem Gipfel. Ist das nicht sensationell?»
SENSATIONELL?
NA, DER HAT KEINEN BLASSEN DUNST!
Ich habe als armes plattfüssiges Kind auf dieser Hütte übernachtet. Die Hüttenstube war mit einem Suppendampf aus dem Hause Maggi behangen - der Schlafraum mit dem verschwitzten Dampf vermiefter Männerhosen.
Dort legten sie mich ins Heu. Inmitten von schnarchenden Berggängern hätte ich meine Ruhe finden sollen. Und jetzt pennen SIE mal eine Runde, wenn das Stroh in die kinderzarten Weichteile sticht und der Mann neben IHNEN ein Unbekannter ist, ins Heu pfeift und dabei Mundgeruch entwickelt, dass die Mäuse im Stroh reihenweise ins Koma fallen?
NEIN - LIEBE FREUNDE. Das war nicht das Leben, von dem Mutters schönstes Kind geträumt hatte.
Frühmorgens dann Zähneputzen unter freiem Himmel und Vaters seliger Jauchzger: «DAS IST NATUR PUR - MEIN SOHN!»
Zu Hause baute er eine Krise, wenn für einmal sein Haargel nicht am Platz stand - UND HIER WASCHEN AM BACH!
«Du brauchst mir die Berge nicht neu zu erfinden», sagte ich eisig zu Innocent. «Ich bin mit Rucksäcken aufgewachsen und hätte immer lieber ein Handtäschchen gehabt?»
Innocent versteht den Witz nicht. Er schaut verständnislos: «Wir können doch nicht mit einem Handtäschchen zum Alpaufzug auf die Engstligenalp? wir brauchen dicke Socken, gutes Schuhwerk, einen Walking-Stock und?»
DIE BERGE WERFEN IHRE SCHATTEN AUF DIE ZUKUNFT, NOCH BEVOR DICH DIE VERGANGENHEIT EINGEHOLT HAT.

Donnerstag - Innocent war nicht zu bremsen. Er kochte Eier hart und Minzenblätter zu Tee. Dann strich er Mettwurstbrote, wickelte Klöpfer in Stanniol und legte vier Riegel OVO SPORT dazu: «So. Jetzt sind wir für den Berg gerüstet!»

«Es hat ein Restaurant dort mit einem hervorragenden Nasi Goreng?», wischte ich das Picknick mit verächtlichem Blick aus der Diskussion.
Innocent baute sich auf, wie die Eigernordwand vor dem Sturm: «Erstens geben wir kein unnötiges Geld aus, wo diese Eier nun schon seit 6 Wochen im Eiskasten sind. Und zweitens gehört das Picknick zum Alpaufzug wie der Senn?»
«Es sind heute fast alles Sennerinnen?», versuche ich nüchterne Sachlichkeit in die verblumte Bergwelt zu bringen. Aber da stehen wir auch schon vor dem Aufstieg zur Engstligenalp.
VOR UNS 300 KÜHE.
ÜBER UNS DAS SURREN DER FLIEGEN.
IN MIR DER KLARE ENTSCHEID: «Ich ziehe nicht im Kuhreigen mit!»
Nun plustert sich aber Innocent auf wie der Halbrahm im Kisag-Bläser: «BIST DIR WIEDER ZU VORNEHM DAFÜR? HAST DU GESEHEN, WIE STOLZ SIE IHRE GLOCKE TRAGEN? Und du machst mir den Affen wegen eines Rucksäckleins und?»
JA, BIN ICH DENN EINE KUH? Ich bin auch stolz auf meine Glocke, aber das ist noch lange kein Grund, dass ich mit roten Wandersöcklein diesen mörderischen Bergweg unter die Füsse nehme. Allerdings muss ich zugeben, dass sich einer ohne rote Socken in dieser Bergwelt vorkommt wie der Zivilist am Morgestraich.
VOLLKRASSOUT.
Alle mit diesen Stöckchen in den Händen und dem Säcklein am Kreuz haben das Uniforme einer Grossclique. Da hinkst du in weissen Tennisstrümpfen total neben den Schuhen.
IN DIESER BERGWELT DER GONDELNDEN BAHNEN UND DES EWIG DÜDELNDEN MUSIKANTENSTADELS SIND DIE MENSCHEN EIN EINZIGER VOGELZUG FRÖHLICH WANDERNDER.
DA IST EIN VERSACE-HÜTCHEN NICHT GERNE GESEHEN. DIE WELT SOLL JUTIG, NATURIG UND URIG SEIN.
Aus dem breiten Gondelfenster habe ich dann den Aufzug der Glockenden bewundern können. Die Natur hat den Kühen Hörner aufgesetzt - der Bauer wunderbares Blumengebinde.
Für einen kurzen Moment lang wäre ich gerne so eine Kuh gewesen - man stelle sich vor: blaue Kornblumen im Haar? dazu ein rosiger Kunstseidenschal von Fiorucci?
Aber eben - die Natur hats anders gewollt.

Donnerstag, 20. Juli 2006