Von Turmerinnerungen und Pfadi-Romantik mit Schlangen

Donnerstag - Als wir vor über dreissig Jahren den verlotterten Turm auf der kleinen Halbinsel der Toskana erstmals sahen, war ich begeistert.
ICH SAGE EUCH: FEUER UND FLAMME!
Die riesige Terrasse über dem Meer, der blinkende Leuchtturm der Nachbarinsel und ein kleiner Strand, an dem die Wellen zärtlich die Felsen streichelten - all dies verhiess: PARADIES.
«Hier wollen wir bleiben», verkündete ich Innocent.
Der ahnungsschwanger: «Du liebes Lieschen... bist Du ganz sicher, dass Du das begehrst?!»
Ich war sicher. Und begehrte.
In Gedanken sah ich mich bereits das riesige Turmzimmer mit Tausenden von tautränenden Rosen ausschmücken. Ein Fischer würde mir den fangfrischen Fisch ans Ufer rudern. Den Aperitif (Zitronenbowle direkt ab Baum) sollte es für die Gäste bei untergehender Sonne auf der Meeresterrasse geben. Und ich würde im rostfarbigen Armani-Anzug (passend zu den Stützbalken) durch die Gemächer huschen, schwere Kerzenleuchter leuchten lassen und «meine Burg, mein Leben» spielen.
Innocent noch einmal seufzend: «Ach Du liebes Lieschen!»
Der Torre, wo die alten Sarazenen Feuerzeichen statt SMS gesendet hatten, der Torre also gehörte einem italienischen Conte sowie einem unserer Freunde. Wir sollten nun an der Freude teilhaben. Und: «Wo ist das Personal?», rief ich zu Innocent. Doch der rieb sich fluchend Augen und Anzug, weil ein Teil der Turmzimmerdecke ihren Kalk direkt über ihn ausgeschüttet und die geräumige Stube in eine Schutthalde verwandelt hatte.
«Das Personal kannst Du Dir an deine vier Backen streichen», knurrte Innocent heiser, «hierher verirren sich nicht einmal die Steuereintreiber...»
«Haha», lachte ich vergnügt über seinen Witz.
Erst als mir auf dem Klo eine Schlange aus der vergammelten Schüssel entgegenzischte, begann ich zu ahnen, dass alles kein Witz, sondern bittere Wirklichkeit war: DAS WAR DER ARSCH DER WELT - UND ICH INMITTEN SEINER RUINEN!
Nun gut. So schnell liess ich mir meinen Traum von der Burgherrschaft nicht vermiesen. Innocent, dessen Optimismus etwas abgekühlt war, versuchte ich durch einen guten Happen bei Laune zu halten.
ABER ERST KÖNNEN VOR LACHEN!
In der Burgküche fand sich wohl ein altes Gasrechaud. Doch der fleischfarbige Gummischlauch, der zur Butanflasche führte, war von Ratten durchgebissen worden. So hatten diese zumindest etwas zwischen den Zähnen gehabt.
Das was der Conte als «tutto confort» bejubelt hatte, war ein verrosteter Stromfaden, der die ganze Burganlage speisen sollte. Schaltete ich den Föhn ein und wollte auch gleich noch das Elektro-Öfchen gegen die mörderische Kälte anwerfen, gabs einen Knall. Zu allem Elend war der Sicherungskasten etwa zehn Minuten vom Torre entfernt am Strand installiert worden. Nur Gott und ein paar Wahnsinnige wissen warum. Jedenfalls spulte ich zu Beginn der Torre-Periode täglich etwa 45-mal zwischen Elektro-Öfchen und Strand hin und her, bis ich dann total auf Kerzen umstellte und Innocent sein schönes Haar zur Glatze schor.
O.k. Man könnte sagen, für einen knapp 30-Jährigen sei so ein Torre ein aktives Fitnesszentrum. Aber Fitness war schon damals meine Sache nicht. Also begann ich die ganze Umgebung zu bestechen, bis endlich eine zweite Leitung mit Strom gelegt wurde und - oh Wahnsinn - etwa zwölf Jahre später ein dicker, alter Mann vor dem grossen Holztor stand und strahlte, er sei das Telefon.
Bis dahin hatten wir die Neuigkeiten immer in der Bar Centrale am Hafen ausgetauscht. Damals traf sich die ganze Inselschaft am Tresen, um ein Telefongespräch anzumelden. Männiglich palaverte bei zwei, drei Gläslein vom Inselwein, der in seinem Bouquet auch heute noch saurer ist als die Bourgeois-Auslese des Kressi-Essigs. Endlich brüllte Lida, die Barfrau: «Cabina 5 - Basilea.» Und so hörten wir dann zwischen Zischen und Krächzen aus einem baufälligen Bakelit-Telefonhörer, was sich am Rheinknie so alles tat.
Ich muss zugeben, dass diese Art von Pfadfinder-Leben nie meine Sache war. Wenn wir Gäste hatten, schleppte ich vorher Hunderte von Wasserkanistern an, weil die Quelle (wie immer) versiegt war und die Freunde dreimal täglich duschen wollten.
Mittlerweile hatte ich ein halbes Dutzend Reserve-Schläuche für Gasflaschen (denn die Ratten waren gefrässig) angeschafft, streute Tonnen von Naphthalin gegen Schlangen und hatte gar einen Bauern aufgetrieben, der mir jeden Tag frische Eier brachte. Der Mann hiess Leo. Und ich servierte die Frühstückseier stets mit ihm zusammen: «Das ist Leo - seine Eier sind noch nestwarm.» Eines Tages hat mir dann Ursula erzählt, sie habe Leo im Supermercato des Ortes getroffen. Er soll dort Dutzende von bulgarischen Aktions-Eiern in sein Wägelchen gepackt haben.
IMMERHIN - DIE TAUFRISCHEN ROSEN HIELTEN SICH IN DEN FENSTERLOSEN TURMZIMMERN WUNDERBAR.
Heute? - Handy-Gepiepse. Parabol-Schüssel und über 1000 TV-Programme. Die Bar Centrale ist ein Internet-Kaffee und Leos Sohn Gianni bringt uns Stangeneier aus Orbetello.
Manchmal sitzen Innocent und ich auf der grossen Terrasse, schauen übers Meer, wo die Sonne wie ein Feuerball in den Wellen versinkt.
«Weisst Du noch die Schlange im Klo?», sage ich.
Er: «Du liebes Lieschen...»
Dann schüttelt er den Kalk von den Shorts - denn der rieselt noch immer...

Donnerstag, 26. April 2007