Vom gesellschaftlichen Abstieg und einer Reise nach Paris

Donnerstag - «Ich bin ja nicht hugo!»
Solches behauptet mein Erbonkel Nudelstadt von sich.
Meine Tante Ruthchen und ich liegen ihm zu Füssen. Küssen seine Kleinzehe. Und jammern: «DAS KANNST DU UNS NICHT ANTUN - NICHT DIESEN ABSTIEG!»
Der Onkel knallt uns ein Schreiben hin: «Die wollen jetzt 950 Euro für ein Zimmer! Man kann ja nicht mehr als schlafen?»
MAN KANN MEHR!
Wenn ich an die schönen Jahre im «Crillon» zurückdenke. Ich meine: Laurent, der Türsteher in der schwarzen Uniform, der meiner Tante auch dann den Schirm über den Kopf hielt, wenn Paris eine Trockenperiode hatte und Monsieur Pierre, der Chefportier, der jedes Mal einen Bückling riss, wenn wir an ihm vorbeizogen. HIGHLIFE PUR. Als Trämlerstochter kostest du solche unterwürfigen Ehrbekundigungen aus. Für einen göttlichen Moment bist du Königin oder Frau Calmy-Rey auf Reisen. ZWANZIG MAL AM TAG SIND WIR AN MONSIEUR PIERRE VORBEIGERAUSCHT. Und es klappte immer: Er klappte wie ein Sackmesser in die 90-Grad-Stellung. Das war im Preis inbegriffen. DAS SIND FREUDEN, DIE MAN BEI KEINEM MC DONALD?S KAUFEN KANN!
Und nun Nudelstadt: «Die UBS-Aktien im Keller? der Boiler verkalkt? und die Haushälterin pocht auf einen vierzehnten Monatslohn - IRGENDWO MUSS DOCH GESPART WERDEN!»
Mühsam rappeln Tantchen und ich uns hoch. Wir taxieren den Onkel frostig: «Aber wenn du uns in einen dieser miesen Flohkästen einquartierst, lassen wir bei HERMES deine Goldkarte vibrieren?»
«Zzzzz», machte der Onkel. «zzzz - habt ihr auch mal daran gedacht, wie verschissen es 99,9 Prozent auf dieser Welt geht? Und ihr wollt es buckeln und vibrieren lassen!»
Wo er recht hat, hat er recht.
DOCH DARF MAN EINEN HUND JAHRELANG MIT SCHAPPI FÜTTERN UND IHN DANN AUF ROHKOST SETZEN?! Tantchen versuchte es dann noch mit ein paar herzzerreissenden Tränen. Sie hätte auch einen Putzlappen auswringen können. Nudelstadt hielt ihr nur die Kleenex-Schachtel hin. Einlagig.

Sonntag - Als uns der Taxichauffeur in diese Strasse, die Rue Frochot heisst, kutschierte, wurde es auch dem Onkel etwas mulmig.
«RUDOLF - wer hat die Zimmer bestellt?», bellte die Tante im Fond, und deren Stimmlage liess ein Sturmtief über den nächsten Tagen ahnen. Onkel Nudelstadt zeigte anklagend auf unsern Freund Innocent: «Der wars.» Dieser hüstelte. «Es war eine Last-Minute-Aktion?»
Da hielt der Wagen auch schon vor einer vergammelten Leuchtschrift, die wohl «HOTEL AURORA» hätte sagen sollen. Die aber nur «TEL RORA» blinkte. Es kam kein livrierter Portier. Es kam nur eine Handvoll Mädchen in sehr, sehr, sehr kurzen Miniröckchen und Hacken so hoch wie der BIZ-Turm. Eines der Mini-Röckchen machte sich an Tantchen ran. Sie befühlte ihr Hermès-Tüchlein und zeigte dann anerkennend auf den Onkel: «So einen Macker habe ich mir immer gewünscht?» Die Tante blieb Dame: «Sie sollten den Macker mal bei Kursfall an der Börse erleben - dann herrscht die Baisse nicht nur in der Hose?» Wir gingen zur Réception des Hotels. Es war ein Stehpult mit einem angebissenen Apfel und einer Glocke daneben. Letztere liessen wir heftig schellen. Schliesslich schrie eine Stimme genervt: «Was soll der Scheiss?? Ich hocke hier am Fernseher? nehmt die Schlüssel und verkrümelt Euch!» In diesem Moment dachte auch Onkel Nudelstadt sehnsüchtig an den 90-Grad-Bückling von Monsieur Pierre zurück.

Dienstag - Klar, dass wir das «Crillon» dann doch besucht haben. Allerdings nur zu Tee und Harfe.
Aber immerhin.
Als wir auf den schwarz livrierten Türsteher Laurent loszottelten, verzog der keine Miene. Er spannte über dem Kopf meiner Tante den Schirm auf. So begleitete er sie zur Drehtüre.
«Merci Laurent», lächelte sie gerührt. «Es sind andere Zeiten... die Börse... Sie wissen schon.»
Der Portier lächelte zurück: «Wenn Sie mir ein freies Wort gestatten: Für 99,9 Prozent herrschen immer diese Zeiten, Madame?».
Im Innern buckelte Monsieur Pierre. Allerdings nicht für uns. Sondern vor einem Pelzträger, der auf Russisch fluchte und drei Damen im Schlepptau hatte, die keine solchen waren?
Als Monsieur Pierre Tantchen entdeckte, hatte er Tränen in den Augen: «Die Zeiten haben sich geändert, Madame? nur der Buckel bleibt.»

Donnerstag, 15. November 2007