Donnerstag - «Und?», strahlt Innocent und macht eine ausladende Geste in Richtung Berge.
«Und? Ist das nicht Natur pur? Wildstrubel mit Schnee... Lohner im Abendrot...»
«Wiesen voller Fladen. Und Kuheuter voll mit Vollmilch!», ergänze ich bissig.
Ich hasse es, wenn er tut, als hätte er die Berge eigenhändig gebaut. Dieses Flachland-Tussi hat doch von der Welt des Jodels null Ahnung - ABER ECHT NULL!
Nun tut er wieder so, als hätte er das Matterhorn erfunden. (Nur weil ein Basler Stadtei in Salzburg mal eine Liese gemolken hat, macht das noch lange keinen Ländler.)
Als Innocent den Maschenzaun zu unseren Nachbarsweiden öffnete, hielt ich die Geste für GROSS. Innovativ. Und zukunftsweisend.
NIEDER MIT DEN HÄGEN! - Lasst uns ein einziges vereintes Adelboden sein», schrie die sozialistische Seite in mir.
Daraufhin hat Pierens Edi den Zaun wie damals Zahnarzt Bohrer die letzten Beisser der Kembserweg-Omi weggerupft.
Um uns war Natur und Jodel. Das Alphorn grüsste vom Kuonisbergli - und mit ihm die erste Schneekanone, welche für den Weltcup 2008 schon mal zünftig probeschneite.
Unser kaffeetischgrosser Fleck Rasen ist jetzt eins mit Göpfis Kuhweide. Das kleine Stückchen Grün, das meine liebe Base Eva gedüngt, gerasenmäht und immer wieder mit der Pingeligkeit einer Diplom-Buchhalterin ausgeglichen hatte - DIESER ENGLISCHE GOLFGRÜNFLECK MACHT SICH NEBEN DER RUPPIGEN WEIDE WIE EIN NOBELPREISTRÄGER IN SHORTS.
«Ist es nicht herrlich, dass wir dazu beigetragen haben, die Grenzen niederzureissen, die Zäune zu brechen, die Enge zu sprengen?» - so der verklärte Freund.
Die Verklärtheit ist jedoch von kurzer Dauer. Schon trabt Pierens «Mädi» auf uns zu, was nicht die Bäuerin, sondern seine beste Milchkuh ist.
Und weil sie jetzt kein Hag mehr im Zaun halten kann, weidet die dumme Kuh auch schon auf unserm Frühstücksrasen.
Innocent nimmt es von der philosophischen Seite: «Die Äpfel in Nachbars Garten haben schon immer besser geschmeckt...»
«Wo sind hier Äpfel?», relativiere ich eisig. «Das ist ganz einfach eine Kuh, die über den Hag frisst, weil keiner mehr da ist. Und schau nur, was jetzt passiert!»
Durch die Kuh geht ein Rumpeln und Zittern wie durch das damals bebende Basel. Dann hebt diese Sau, die eine Kuh ist, den Schwanz. Und ich erspare euch an so einem frohfrommen Tag wie Allerheiligen weitere unschöne Bilder - aber eines kann ich sagen: DIE NATUR SPRITZT INNOCENT DAS ERSTMALS GETRAGENE BRIONI-HEMD SO VOLL, DASS SICH DER UNISTOFF PLÖTZLICH BRAUN PRÄSENTIERT.
«Oh traumschöne Natur...», flöte ich.
Hinter der Kuh kommt Göpfi geschlurbt. «Hätt si gschisse? - Aber Ihr heit jo weuue, dä dunners Haag achi ryysse...»
Er lachte herzlich, so dass seine drei Zahnstummel zu sehen waren. Und wenn ich an die Gerupften der Kembserweg-Omi denke, werden Göpfis Stummel bald den ähnlichen Weg gehen. Wie unser Maschenzaun, der nicht mehr ist...
Samstag - Statt im eigenen, kleinen Garten klappen wir nun unser Frühstückstischchen in den Kuhfladen auf.
Fliegen umschwirren mein gedicktes Buttenmus, während Pierens Ziegen sich an den allerletzten Rosenblüten laben. UNSERN ROSENBLÜTEN.
Kaum dass Innocent auftaucht und den Teehafen mit seiner Blütenmischung zwischen getrockneten Kuh-Flachfladen durchbalanciert, hopsen die sonst so Trägen und Gehörnten flott im Galopp an.
Obwohl ich es ihm verboten habe, hat dieser Dummi die glockenden Tiere mit Silser-Brot-Resten gefüttert.
JETZT HABEN WIR DAS THEATER!
Kühe sind unglaublich scharf auf Silserbrot. Ganz speziell auf die groben Salzkörner auf der Kruste. Man kann sagen: Silserbrote machen Kühe süchtig. Jedenfalls reagieren Letztere wie eine Herde Junkies, wenn der Koks-Mann kommt. Ausser in Salzburg habe ich nie mehr eine Kuh so für Innocent schwärmen sehen?
Das Ende vom Lied ist, dass wir das Wiesen-Frühstück fliehen. Eine erstaunlich flinke Herde verfolgt uns mit hysterischem Gebimmel. Auch Pierens Ziegen haben sich jetzt der Herde angeschlossen - die Gier nach salzigem Silserbrot macht Kühe wie Ziegen zu diesen Hyänen, die man sonst nur an Wühltischen trifft? Die Stubenfester sind geschlossen. Die Scheiben jedoch laufen milchig vom begehrlichen Atem der Kühe an. Grosse Augen, welche schon Pallas Athene zur «Kuhäugigen» gestempelt haben, glubschen auf unsern Stubentisch, wo der letzte Silserkranz im Brotkörbchen liegt.
Wir wagen uns nicht mehr aus dem Haus. Seit die Grenzen gefallen sind, ist die Kacke am Dampfen (wie man so sagt).
Die Morgenröte legt sich auf die Gipfel des Lohners. Es ist, als hätte der liebe Gott eingefeuert.
«Oh Natur... oh Zauber», schmalzt Innocent nach. Und beisst in den Silser.
Drausen heben zwei Kühe im Protest muhend die Schwänze.
IHR WISST, WAS KOMMT.
Die Berge grüssen hinter gesprenkelten Scheiben...