Vom roten Mohn in Kassel und einem Kuchenblech an der Wand

Donnerstag - Als Innocent verklärt vor diesem Stück angerostetem Blech stand, das ich eben noch vor der Entsorgungswut unserer elsässischen Putzperle Annick retten konnte, weils ja Kunst ist und mehr gekostet hat als hochgerechnet all meine 124 Paar Geox-Schuhe zusammen - als Innocent also abgehoben dieses Stück Kunst betrachtete, dem ein hoffnungsvoller Jung-Artist den Titel «Das Ende» gegeben hatte, da wusste ich: Das ist erst der Anfang vom Ende. Und der Anfang heisst: DOCUMENTA.
Na Bingo.
Schon vor fünf Jahren hat mich Innocent in Kassel vor Blech und Eisen geschleppt, das für mich einfach Blech und Eisen war.
ABER ES IST ERSTAUNLICH, WAS DIE KUNSTGELEHRTEN AUS DIESEM BLECH DEUTEN.
Sie haben mir damals die Ohren vollgeschwatzt von «neuen Linien der brutalen Perspektive». Von «geballter Kraft in der Farbgebung durch die Galaxis». Oder: «Beachten Sie die Diagonale im Futurum.»
Von meinem lieben Lateinlehrer Fortunatus wusste ich noch, dass es eigentlich «in futuro» heissen sollte, weil «in» auf die Frage «wo?» immer den Ablativ nach sich zieht.
ABER DA HÖRT DIE KUNST DANN AUF.
Beim lateinischen Ablativ verliert sich die Perspektive.
Ich mein ja nur.
UND NUN ALSO DIE ELFTE DOCUMENTA, die sich in ihrer dokumentarischen Aussagekraft so präsentiert: DOCUMENTA: IIIIIIIIIII
O.k. Es sind zweimal ein Fünfer-Strichhäuffelchen mit Querstrich, so wie sie die Kembserweg-Omi jeweils beim Mittwoch-Jass auf die Tafel gekritzelt hat - aber die kann ich technisch hier nicht wiedergeben. Gewöhnliche Schreiber sind in ihren künstlerischen Möglichkeiten beschränkt. Der Querstrich findet auf der Tastatur-Kunst nicht statt!
DOCH ZURÜCK ZUM BLECH AN DER WAND.
Als Innocent zu Hause damit aufkreuzte, dachte ich zuerst, er habe sich wieder in der Allschwiler Brockenstube herumgetrieben. UND DANN KOMMT ER MIT EINER VERGAMMELTEN KUCHENFORM HEIM!
Er erklärte mir mit leicht erhöhter Stimme, die stets den Dozenten in ihm anzeigt, dass ein Trämlersbalg punkto Kultur eh mit dem Sechserschlitten durch ein Land voller Gartenzwerge gerüttelt sei und somit besser schweigen sollte. Im Übrigen sei das hier welche?
GEMEINT WAR KULTUR.
Das ist auch so etwas bei dieser Doziererei - nie können sie klar und deutlich sagen: Du bist ein Trottel - vor dir hängt das Schöne der Welt, welches schon die Götter Kultur genannt haben. Nein. Sie breien herum, suchen nach Worten, die keiner versteht, und wundern sich dann, dass die Abstimmung übers Casino bachab geht.
Wir Unverständigen brauchen keine schönen Worte. Wir brauchen Klartext.
Den serviere ich auch gleich: «ALSO DIESER MIST KOMMT MIR NICHT AN DIE WAND!»
Innocents Stimme wurde noch etwas höher: «Dieser Mist ist von Bruce Warner, einem aufstrebenden Künstler von New York, der bereits an der Biennale ausgestellt hat.»
Ich klar und sachlich. «Was kostet das?»
Er: «Gisèle hat mir einen guten Preis gemacht!»
AUCH DAS HASSE ICH AN DIESEN KUNSTHEINIS: IMMER DAS DRUMRUMGELABBERE.
Ich: «Kann ich den Preis wissen?»
Er sagts.
UND DIESMAL ISTS MEINE STIMME, DIE SICH ERHEBT. NICHT NUR LEICHT?

Montag - In Kassel erwartet mich als Erstes ein wunderschönes Mohnfeld. Der Mohn ist Kunst. In einer Zeit, wo der Opium-Anbau verboten ist, macht sich dieses blutrote Feld verboten gut.
«Beachte bitte inmitten der roten Blumen die vereinzelten Violetten. Das ist Schlafmohn», erklärt mir Katrin. Sie ist mit der Kunst auf Du und Du. Und weiss über alles alles.
Sie fährt vor: «Der Schlafmohn ist die Revolution und?»
In diesem Moment schallert ein ohrenbetäubendes Kampflied durch die Mikrofone. «Das gehört auch dazu - der Gesang der Revolution im Schlafmohnfeld. Zwei Mal täglich.»
Falls Sie es nicht begriffen haben: Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.

Mittwoch - Ich muss zugeben, dass die Documenta IIIIIIIIIII auch nette Sachen hat. Ein Video zeigt mir verschiedene schlitzäugige Kindergesichter, die auf etwas warten. Sie gucken gebannt zur Kamera. Da - SCHWUPP - klatscht ihnen ein Gutsch Milch ins Gesicht. Sie versuchen unbeweglich zu bleiben. Aber einige lächeln doch. Der Spass an der Kunst ist stärker.
Ich schaue der Milchwerferei gebannt zu, bis eine Gruppe von kunstinteressierten Rucksack-Frauen mit Nickelbrillen, Schlabberhosen und China-Sandalen Notizblöcke zückt und andächtig der Kunstexpertin lauscht, die sich punkto Milch und Schlitzaugen schlau gemacht hat.
«Der Künstler kommt aus Taiwan», piepst die Kunstvolle. «Er hatte als Einzelkind eine sehr einsame Jugend - denn er war dick. Sehr dick.»
Ich sehe, wie es die Rucksäcklein schaudert.
«Die Eltern waren sehr streng. Aber diese Strenge zeigt auch ihre Liebe - und diese wird im Video mit der Muttermilch symbolisiert?»
Also ehrlich, da ist mir das Kuchenblech fast noch lieber.

Donnerstag, 2. August 2007