Von einer Ente an der Fasnacht und der Flucht danach

Donnerstag - Wenn Innocent heute Morgen die Koffer packt und die Fasnacht flieht, so wie er sie immer flieht, dann hat dies seinen Grund. UND JETZT ATME JEDER GANZ TIEF DURCH: DER GRUND IST EINE ENTE!
Ich meine: Er hat Fasnacht nie gemocht. Ok. Habs akzeptiert. Ich mag ja dieses Fondue, das er sich beim Marieli auf der Rigi tonnenweise reingabelt, auch nicht.

Bei Innocent muss in der Jugend etwas falsch gewickelt worden sein. Irgend ein tiefgreifender pädagogischer Missgriff hat aus ihm das gemacht, was er heute ist: ein Fasnachtsflüchtling. Einer, der von Menschen, die sich genüsslich in ein Kostüm werfen und die Birne verhüllen als «kranke Pisser» spricht. Kurz: Einer, der verbittert ist. Und Fasnacht hasst.
Innocent hat mit mir NIE über sein tiefhängendes Problem gesprochen. Ich weiss nur (und dies von seiner Schwester, dieser herzensguten Seele - Gott hab sie selig), ich weiss nur, dass er als Kleinkind sehr gerne Fasnacht gemacht hätte. Innocents heissester Wunsch war damals, als «Änteli» rumzulaufen.

Seine liebe Mutti, die manchmal ein rechter Giftzahn sein konnte und später ein ganzes Altenheim launig in Trab hielt, Mutti also sagte «NEIN». Erstens sei Fasnacht nur für kommunes Volk und nichts für Familien, wo der Apfel mit einem Silbermesser geschält wird. Und zweitens gibts an der Fasnacht keine Änteli. Höchstens Dänteli. Für so etwas Plebejisches sei aber kein Geld da (die Zinseszinsen waren nämlich um erschreckende anderthalb Prozent zurückgegangen).

Nun weinte das Kind aber ganz bitterlich. Und die Weissnäherin der Familie, die «Unggeli» genannt wurde und die Frechheit hatte, nach erst 27 Dienstjahren 5 Centimes mehr Stundenlohn zu fordern (dieser Exzess sozialistischer Gier ging in die Familienchronik ein und wird noch heute an jedem Familientag vorgelesen), dieses Unggeli also erbarmte sich der armen Kinderseele. Und schneiderte aus einem abgetragenen Deux-Pièces einer verblichenen Ahne etwas Nettes für das Kind.
Als dieses so - nicht als Änteli, aber immerhin als Dänteli - auf der Strasse erschien, hielten sich die Kinder des vornehmen Quartiers, wo bereits zu jener Zeit «Kunstseide» ein bissiger Begriff für neureich war, die Bäuche. Und gröhlten.

Der kleine Innocent schloss sich heulend in sein Zimmer ein, wo ihn weder Hund noch Katz trösten konnten, weil die Mutter allergisch auf Tiere war und nur ein Fischaquarium erlaubte.
Innocent drückte seinen heissen Kopf ans kalte Glas und schaute den stummen Fischen zu, die ihn nicht beachteten, aber sein aufgewühltes Kinderherz mit ihrem ruhigen von Links-nach-rechts-, von Rechts-nach-links-Schwimmen etwas beruhigen konnten.

Wie gesagt: Innocent hat nie darüber gesprochen - auch damals nicht, als er wie jeder hohe Militaris auf den Schragen liegen und dem Psychiater das Innere nach aussen kehren sollte. Er trug das Fasnachtserlebnis in sich, wie das Eis den Ötzi oder die Zwetschge den Stein.

Wie nun unser kleines Pfeifergrüpplein, die lustigen Gwendolyner, sein Zehn-Jahre-Jubiläum feiern wollte, staunten wir nicht schlecht, als Innocent, der die Gruppe als «Passivmitglied» mit 15 Franken Jahresbeitrag unterstützte, mitteilte, er gedenke, diese Fasnacht im Vortrab mitzulaufen. Er habe sich bereits ein Kostüm bestellt.
Wir ahnten Fürchterliches und wiesen immer wieder auf die gute Luft auf der Rigi und das fröhlich lachende Marieli hin.
NICHTS ZU MACHEN.
Er blieb stur wie eine Fondue-Gabel.

Treffpunkt für den Morgestraich war der «Schlüssel». Und nie werde ich diesen Augenblick vergessen, als wir da vor unserer Suppe sassen und Esther, die zweite Stimme, den Löffel fallen liess, so dass mein wunderschöner Dummpeter aus Matratzenstoff von oben bis unten mistbraune Spritzer abbekam: «JETZT HOL MICH ABER DIE KLEEKUH - SCHAUT MAL DORT!»
Unter der Türe stand eine Ente.

Innocents dünne Steckenbeinchen stachen wie zwei Streichhölzer aus einem immensen Sackbauch hervor. An den Füssen trug er Schwimmflossen - um den Hals eine Federstola, die meine Mutter mal für den Auftritt «LolaLola» an ihrer Klassenzusammenkunft gekauft hatte.
Das Schlimmste aber war das hintere Entenende - wie ein Paddelboot gings in den Spitz, prall auswattiert und alles mit vergammeltem Gänseflaum verklebt.
Man muss sich vorstellen, dass die Ente in eine Epoche kam, wo Fasnacht schön und aus herrlich funkelnden Matratzenstoffen zu sein hatte.
DIESES VIEH WAR NICHTS VON ALLEDEM.

Unsere kleine Clique versuchte zu türmen. WIR WOLLTEN MIT DIESER ENTE NICHTS ZU TUN HABEN. Aber da hatte sie die Ihren auch schon entdeckt, watschelte mit den Schwimmflossen auf uns zu und wehte mit dem Federarsch die Weissweingläser von den Tischen.
DAS WAR DANN EIN HALLO IN DER BEIZ!
Die perfekt maskierten Morgestraichler nannten Innocent eine Zumutung. Sie verhöhnten ihn laut. Einige Pfeifer spuckten gar aus und nicht etwa, um den Ansatz zu prüfen...

Innocent machte kalkweiss kehrt. Und torkelte in die Nacht.
Zu Hause wartete kein Haustier auf ihn, das ihm Trost spenden konnte (Katzenallergie!).
Er legte einen Zettel auf den Küchentisch «Bin auf der Rigi...».
Dieser Zettel liegt nun jedes Jahr dort - der Zettel eines gebrochenen Entenherzens, einer kaputten Fasnachtsseele.
Marieli gibt ihr Trost.

Donnerstag, 22. Februar 2007