Irmchens Weihnacht und eine russische Malerin

Donnerstag - Als ich Irmchen in ihrem «Alterssitz» (wie sie es nennt) besuchte, baute ich die Krise.
HORROR PUR.
Wenn dies das Alter ist, serviere ich mir die Praline mit der Arsenfüllung.

Irmchen strich mir über den Kopf - eine Geste, die meinen Hals zuschnürte und mir die Stimme verschlug: «Für Dich siehts ärger aus als für mich. Wenn Du mal hier lebst, nimmst Du das alles als neuen Rahmen auf. Es ist Dein neues Leben - die Schwergewichte sind verlagert. Etwa: Was es wohl zum Mittagessen gibt... welchen Musikanten haben sie für Freitagabend engagiert... wird Schwester Maria wohl den kleinen Spanier aus der Küche heiraten, obwohl wir ihr alle abgeraten haben...? Nein, mein Lieber. Auch hier ist das Leben spannend. Nur verlagert sich eben das Themenfeld.»

Ich rieb mir die Augen. Stellte das kleine Töpfchen mit dem Mini-Weihnachtsstern zu den andern 23 Töpfchen mit den Mini-Weihnachtssternchen und schämte mich, dass mir kein besseres Mitbringsel eingefallen war.
Die Zeit hat mir in den letzten Monaten meine Umgebung weggerafft... verändert... aus den Angeln gehoben.
Meine alte Linda springt nach zwei Monaten im Koma wieder pudelmunter herum und wird von ihrem Walter liebevoll betreut - wenn ich auftauche, fragt sie mich aber zuerst nach Schokoladenkuchen. Und dann, was meine liebe Mutter macht.
Meine Mutter ist seit 25 Jahren tot.
Und Schokoladenkuchen ist auf dem Gesundheitsplan «out».
«Es ist nicht schön, alt zu werden», heule ich zu Hause bei Innocent. «Wenn ich einmal alt bin, will ich einfach einschlafen und...»

Innocent knurrt mit seiner berühmt zarten Seele eines Käsehobels: «Du bist alt, mein Lieber. Du merkst es nur nicht. Das Barmherzige am Altern ist, dass immer nur die andern merken, wie Du wirklich dran bist...»
Irmchen erhebt sich von ihrem bequemen Sessel, den sie aus der einstigen Wohnung gerettet hat. Sie will mir ihre neue Welt zeigen.
In der Cafeteria strecken bei unserm Eintreten alle gespannt die Köpfe hoch. Klar. Ich bin ein Teil des aufregenden Alltagprogramms. Und Irmchen zeigt mich so stolz herum, wie sie früher ihre hausgebackene Pastete vorgeführt hat: «Voilà - da ist er. Ich habe Euch gesagt: ER KOMMT!»

In einer Ecke steht eine prächtige Tanne mit gebasteltem Strohschmuck und weissen Kerzen an den Ästen. Die Silberfäden lampen spärlich.
«Das Geld ist knapp», seufzt Irmchen. «Alt werden, wird immer teurer... auch für diejenigen, die solche Heime führen. Gestern hat Frau Tobler im Memory-Training gar gemunkelt, es gäbe Gerüchte, dass das Haus geschlossen werden müsse, wenn nicht irgendwie ein Wunder geschehe!»
Dann schaut sie mich an: «Guck nicht wie ein abgeführtes Kalb... der Kuchen, den der Spanier in der Küche backt, ist göttlich. Hier - nimm ein Stück!»

Eine alte Dame, korpulent und mit Bernsteinketten behangen, lächelt mir aufmunternd zu.
«Sie ist eine russische Malerin», flüstert Irmchen. «Spricht kaum ein Wort deutsch - ist aber schon die sechste Weihnacht hier. Ihr Zimmer ist eine einzige Rumpelkammer, gefüllt mit Bildern und einer Staffelei. Wir lassen sie im Glauben, dass sie eine grosse Künstlerin ist...» Irmchen grinst: «... der Glaube an unsere grosse Vergangenheit ist das Einzige, was bleibt. Vermutlich hat Irena in Moskau Geburtstagskarten entworfen...»
Irgendwo ertönt ein Gong. «Das ist das Zeichen für die Gedächtnistherapie... bleib sitzen. Ich bin in einer halben Stunde wieder hier...»

Ich wartete zwei Stunden.
Irmchen hatte mich einfach vergessen.
Vielleicht ist das Barmherzige am Altern, dass man so gut vergessen kann...

Dienstag - Bevor ich zum einsamen Weihnachtsfest auf die Insel abreise, schiebe ich für Linda noch einen Kuchen in den Ofen. «Einer 84-jährigen Frau darf man nichts mehr verbieten...», hat mir Walter am Telefon gesagt.
Innocent packt den Koffer: «... was sollen diese drei Geschenke? Wir haben doch gesagt, wir schenken einander nichts mehr!»
Das ist auch das Alter: Man hat alles. Braucht nichts mehr. Und dennoch erwarte ich irgendein Wunder - man ist auch im Alter für eine Rolex jung genug...

Das Telefon schellt. «Irmchen», sagt Innocent. Und streckt mir den Hörer hin.
Irmchen ist total aus den Eiern: «Du glaubst es nicht...»
Tausend Gedanken jagen durch die Ganglien: Sie muss in die Pflegeabteilung... sie hat sich das Hüftgelenk gebrochen... die Krankenkasse hat sie ausgesteuert...
«... Du erinnerst Dich doch an Irena - am Freitag, als dieser nette junge Mann mit seinem Klarinettenkonzert aufgehört hatte, sass sie regungslos im Stuhl. Exitus. Und sie hat dabei sehr zufrieden ausgesehen...»
Irmchen macht eine Kunstpause: «... ihren ganzen Krempel hat sie unserm Heim vermacht. Und jetzt halt Dich mal fest - Moskau hat sich eingeschaltet. Das Museum will vier ihrer Werke kaufen. Dort hängen schon drei. Und für den Preis, den sie für ein einziges von Irenas Bilder bezahlen, könnten wir das Haus drei Mal renovieren lassen. Da soll noch einer sagen, Weihnachten hätte nicht auch für die Alten ein paar Wunder am Baum...»
Irmchen tönt überglücklich - so glücklich wie ich sie an Weihnachten nie erlebt habe...

Donnerstag, 21. Dezember 2006