Er singt. Früher hat er nie gesungen. Ausser, wenn ihm etwas auf die Eier ging. Das waren dann aber die schrillgiftigen Töne. Jetzt: alle fünf Minuten die gemütliche Arie des «Schweinderl»-Züchters aus dem Zigeunerbaron.
Er singt nicht nur, wenn er throntechnisch muss (ihr kapiert schon und wollt es nicht näher ausgeführt haben). Er trällert auch im Bett. Beim Blumengiessen. Und natürlich unter der Dusche.
Wir haben ihm links und rechts von der Brause Handgriffe montiert. An die krallt er sich. Und: «Deiiiin ist mein ganzes Herz...»
ES SIND OPERETTEN. IMMER OPERETTEN. Ich weiss nicht, woher er die hat. Seine Familie war stets auf Oratorien eingestimmt. Aber jetzt: Lehar rauf. Lehar runter. Dann die ganze Dynastie Strauss. Und Millöcker. Alles mit Vollbrause. «STELL DIE DUSCHE AB!» - «Was is?»
Der indische Pfleger kapiert. Er stellt auf «KALT». Und macht dem unnötigen Wasserverbrauch ein Ende. Innocent zieht einen Schmollmund. Dann streckt er Joy die tropfenden Finger hin: «Ich küsse Ihre Hand, Madame...» (ICH VERSICHERE EUCH - DAS PFLEGEPERSONAL DIESER KRANKEN WELT HAT JEDEN FRANKEN LOHNAUFBESSERUNG VERDIENT!)
Ich weiss nicht, weshalb Innocent in seiner neuen Welt so gern singt. Er isst plötzlich auch Kaki-Früchte. Hat er nie gemocht. Nun schlürft er sie jeden Tag so laut, dass die Nachbarn sich erkundigen, ob der Staubsauger immer noch kaputt sei...
Irgendwie wirbelt sein neues Ego alles wild durcheinander. Da musst du dich ganz langsam an die verrücktesten Situationen herantasten. Das ist spannend. Aber auch aufreibend. Wo bekomme ich beispielsweise im Februar noch pfludderweiche Kaki her? Die harte Alternative bringts ihm nicht: «Das ist weder Apfel noch Kaki - das ist eine Kaki-Kakafonie.» Jetzt kann er sich vor Lachen gar nicht mehr einkriegen. Gut. Dies war schon früher so. Er ist stets der Einzige gewesen, der über seine Witze lachen konnte.
«Die gaaanze Welt ist himmelblau...», trällert Innocent nun zum Indermann, der ihn ins Badetuch einwickelt, so wie der Bäcker die Strudelfüllung in den Teig. Innocent versucht, seinen Gesang tänzerisch zu umrahmen. Das sollte er nicht. Er ist ja keiner der Kessler-Zwillinge. Die sind immerhin erst 86! Pflegefachmann Joy fängt ihn beim dritten Steppschritt auf. Und «wenn ich in deiiine Auuugen schau», beendet Innocent die Arie aus dem «Weissen Rössel» in indischen Armen. Ich winke die Arie ab: «Jetzt wollen wir uns am Rollator halten und ein paar Schritte gehen, du musst dich bewegen.» Lauter Protest: «VORHER NOCH EINE KAKI!» - «Die Saison ist vorbei...» «DANN HALT EINE APFELKAKI» - «Die magst du nicht» - «WIE WILLST DU WISSEN, WAS ICH MAG UND WAS NICHT?»
Ich schweige. Der betagte Inder hat mir beigebracht, dass es keinen Zweck hat zu widersprechen. Die Lösung: einfach alles akzeptieren. Und mit flatternden Nerven die innere Mitte suchen. Man findet sie, wenn einer mantramässig huundertmal «SUSI ISS MUSS, MAMA SUMMMSUMM» wiederholt. Deshalb: «Susiissmuss, Mammasummsumm...»
«Ich habe eine Banane in meinem Rucksack», offeriert Joy nun Innocent seine Zwischenmahlzeit mit diesen lachenden Augen, die jedem im Land von Buddha schon bei Geburt eingeschraubt werden. «Siehst du - der Joy versteht mich. Her mit der Banane!» Innocent beisst genüsslich hinein. Schon gibt er mit vollem Mund Marlene: «Ich bin die fesche Looola...» Er - die Dietrich? Nun gut: Die Gute wäre jetzt auch schon 121 Jahre alt. Aber sie stünde auf teureren Beinen. Und sicher sicherer.
Es ist, als hätten mir die Himmlischen nach 53 Jahren einen neuen Partner zur Seite geschickt. Das ist nicht immer einfach. Man muss sich daran gewöhnen, dass er alle drei Minuten sagt: «Du bist mein Butzibär...» Dabei zwinkert er listig. Ich weiss nicht richtig, ob er mich verarscht. Oder ob ich wirklich sein Butzibär bin.
«Meditieren Sie!» - klopft mir der wunderbare alte Mann aus Kerala auf die Schultern. Und reibt Innocent die Beine mit einer Creme ein, die nach tausend Rosen duftet. Ich schliesse die Augen - und hole mir irgendwo aus dem Jenseits spirituelle Kraft: «Susiissmuss, Mammasummsumm...»
Da spüre ich Innocents Hand in meinem Haar. Sein Lachen holt mich aus meinem Mantra: «Wäre schön, wenn wir das Leben heute Abend mit einer Flasche Barolo feiern könnten.» Er zwinkert mir zu. Und es ist der alte, wunderbare Innocent. Seine warmen Augen strahlen wie eh und je. «Okay», grinse ich zurück, «dann geht dein Butzibär mal in den Keller.»
«Freuuunde - das Leben ist leeebenswert...», schmettert Innocent nun drauflos. Ich umarme ihn. Und weiss, dass er recht hat.
Illustration: Rebekka Heeb