Vom «Lädeli» und der Nachhaltigkeit

Illustration: Rebekka Heeb

Meine Mutter verkaufte. Und sie verkaufte sich gut.

Als sie an einem Familientag ihrer Sippe verkündete, dass sie mit ihrer Schwester ein Spezereiwarengeschäft eröffnen werde, waren die Reaktionen, als würde eine überhitzte Dose Ravioli explodieren: Tante Julchen: «Ach Lotti - wo du doch Petersilie nicht vom Schnittlauch unterscheiden kannst...» Die Omama: «Es liegt in den Genen - ihre Urgrossmutter hat schon im letzten Jahrhundert den Lebenden Totenhemden angedreht!» Und Onkel Alphonse: « dann miete ich mich gleich mal im Weinkeller ein. Ihr habt doch einen Weinkeller?»

Es war Anfang der 50er-Jahre. Und es war ein simpler Tante-Emma-Laden. In der Familie nannten wir ihn nur «’s Lädeli». Aber Tante Gertrude redete von «unserm Geschäft». Sie liess von ihrem Nachbarn Humbel Papiersäcke mit einem Jugendstil-Früchtelogo bedrucken: «GYSIN LEBENSMITTEL». Mein Vater unkte: «Auf der Rückseite könnt ihr gleich noch eure Konkurs-Nummer... angeben Lebensmittel rentieren nicht...» - «Es soll nicht rentieren, Hans - es soll Genussfreude bringen. Überdies haben wirs richtig drauf...», so gaben die beiden Frauen ihr Credo durch.

Die zwei hatten gut reden. Mit waghalsigen Spekulationen hatten sie ihr Geld an der Börse gemacht. Der Laden wurde ihr Hobby: «Andere Frauen schnupfen Kokain - wir holen unseren Hype auf der Suche nach einem 1-A-Fleischkäse!»

Tatsächlich jagten die zwei in der ganzen Schweiz herum, um die besten Würste, Schinken und Cervelats von Helvetien aufzustöbern. Für die italienische Kundschaft wurden Citterio-Salami aus Mailand und ein wagenradgrosser Mortadella aus Bologna importiert. Spaghetti gabs meterlang in blauem Packpapier aus Neapel. «’s Lädeli» war klein - aber es wurde zum grossen Selbstfindungsweg der Schwestern: «Lustiger als die Coach beim Psychoklempner...»

Bald schon sprach es sich herum: «An der Eulerstrasse bekommst du den besten Fleischkäse... (der Metzger hiess Schnyder, der Grossvater der späteren Tennis-Meisterin Patty)... die schneiden echten Parmaschinken hauchdünn von Hand auf ihre Rollmöpse mopsen aus Hamburg-West an...»

Wir wollen es nicht schönreden: Es war ein simpler Tante-Emma-Laden. Der Bub polierte sein Sackgeld mit «Abfüllen» von Reis, Kartoffeln und Mehl auf. Die Ware wurde in Papiertüten abgewogen. Für Singles und ältere Kundschaft gabs auch 100-Gramm-Säckli. Es wurde nichts verkauft, von dem die beiden Frauen den Produzenten nicht gekannt hätten. Heute ist jeder Metzger auf der Schlachtbank mit seinem Kalb auf Du Meine Mutter aber kannte noch jedes Huhn vom Ei persönlich.

«’s Lädeli» wurde nachhaltig geführt - DIES IN EINER ZEIT, ALS NACHHALTIGKEIT KEIN POLITISCHES SCHLAGWORT WAR. Die Butter wurde von Bauer Stucki als unpasteurisierte 5 Kilo-Goldkugel aus dem Emmental angekarrt. Je nach Bedarf wurden vom «Ballen» 25, 50 oder 100 Gramm abgesäbelt. Es gab Äpfel pro Stück - und weder PIN-Codes noch Credit-Cards. Man blechte bar. Oder liess im grossen Buch «anschreiben». Am Ende des Monats wurden die Schulden beglichen - und mit Tinte sowie mithilfe eines Lineals schwarz durchgestrichen.

Die grosse Zeit war der Dezember. Vater legte die beiden Schaufenster mit zwei Trämler-Kollegen in einer Nachtschicht mit rotem Samt aus. Stolz drapierte er seine handgegossenen Zinnkannen neben teuren Weinflaschen. Dann arrangierte er riesige «Fresskörbe» auf dem Stoff.

«Fresskörbe» sind in einer Zeit, wo zwei Drittel der Menschheit hungern, politisch unkorrekt. Heute jedem klar. Aber damals waren sie d e r Geschenk-Hit für Weihnachten - sie wurden mit ganz bestimmten Delikatessen gespickt: Crevetten in der Dose... Spargeln in der Büchse... einem Kaffee-Pack «Mokka-Schale-Gold»... und natürlich auch mit einer exotischen Ananas, etwas, das man damals nur in Büchse und grob gelocht kannte. Die «Fresskörbe» waren das Resultat aus einer hungrigen Kriegszeit, die kaum ein paar Jahre zurücklag.In den Erinnerungen meiner frühsten Weihnachtsfeiern finden Mutter und Tante am Heiligen Abend nicht statt. Sie lieferten bis zehn Uhr nachts Riesenkörbe zu ihrer Kundschaft - wenn sie endlich bei uns an der Tanne waren, schnarchten sie spätestens bei himmlischer «Ruuuhuhhh» im Duett vor den Ästen.

Als die Migros dann an der Ecke ihren Schuppen eröffnete und Coop gleich vis-à-vis einzog, wurde am Familientag verkündet: «So. Das wars! Der Spass ist aus. Die Leute wollen billig. Und nicht den Genuss.» Drei Jahre später stand dort, wo einst 1000 Weinflaschen im Keller gelagert worden waren, ein Neubau mit Flachdach. Er steht noch immer dort - und Migros wie Coop bieten einen Steinwurf entfernt 40 Prozent auf belgische Hühner und Entrecotes aus Uruguay.

Manchmal besuche ich die kleinen Quartiermärkte bei der Matthäuskirche oder vor dem Ökolampad, wo dieses alte Tante-Emma-Laden-Gefühl plötzlich wieder aufflackert. Ich freue mich an den jungen Leuten, die mit hausgemachten Gemüselasagnen, Barolo-Bratwürsten oder Feigen-Konfitüren an ihre Stände locken. Es sind die Jungen, die uns zur alten Nachhaltigkeit zurückführen.

UND ICH KANN MIR VORSTELLEN, DASS MEINE MUTTER AUF IRGENDEINER WOLKE ANERKENNEND NICKT: «WAS SAGST DU, TRUDI? Die Jungen habens voll drauf - und auf das Ding mit der Gemüselasagne hätten wir wirklich auch kommen können!»

Illustration: Rebekka Heeb

Montag, 4. Oktober 2021