Von der Lust auf Huhn und Nachhaltigkeit

Illustration: Rebekka Heeb

Peter hat Eier. Die grössten weitherum.

Wenn er gut drauf ist, komme ich in den Genuss. Und lasse seine sechs Hennen grüssen. Denn ohne Hennen geht auch das mit dem Ei nicht. Je älter nun aber so ein Huhn wird, umso weniger Eier hat Peter. Was tun mit dem Huhn? Jetzt kommt mir mein Adelbodner Nachbarbauer doch tatsächlich auch noch mit dem Hammerwort des 21. Jahrhunderts: «NACHHALTIGKEIT! - Wir hühnern nachhaltig - und rüsten erst wieder auf, wenn die Olga gar nichts mehr hergibt.»

Olga ist ein Bielefelder Kennhuhn. Die Gute drückt pro Jahr schon mal 260 Eier ab. Jedes à sage und schreibe 60 Gramm (mit nachhaltiger Verpackung). Ja Halllooo - das muss ihr zuerst einmal ein «Italiener» oder ein «Westfälischer Totleger» (es handelt sich hier um legekräftige Hühnersorten) nachmachen. «Und was passiert mit Olga, wenn ausgeeiert ist?» - «SUPPENHUHN!»

Das ist die Nachhaltigkeit der Menschen von heute: Wenn einer nicht mehr produziert, kommt er in die Pfanne. FRAGT UNS HAMPELNDE GREISE. Wir werden alle gerupft, bis wir im Ofen landen.

Szenenwechsel. Ich gucke mir im Supermarkt die Kühlvitrine an. Genauerer Standort: die Hühnerauslage. Die nackten Fleischteile erinnern an jene Zeit, als für einen Franken der Stützli-Sex-Vorhang hochzurrte. Und der Ausgehungerte dann Fleischportionen in Rosa oder Dunkel angeboten bekam.

Ich bin ausgehungert. In mir wächst der Wunsch: am Sonntag wieder mal ein Huhn! HÜHNER WAREN ZU MEINER KINDERZEIT DIE WELTALLFLÜGE VON HEUTE: Nur Privilegierte kamen ran. Ein «Sonntagspoulet» gabs etwa viermal im Jahr. Es war ein Ereignis mit dünnem Hals, an dem der tote Kopf schaukelte. Das Huhn hat beim Kahlschlag die Augen zugekniffen. So musste es auf der Hühnerhimmelwolke nicht mehr zusehen, wie Tante Gertrude mit dem Beil sein schlaffes Haupt abhackte.

WIR KINDER ABER STIERTEN MINDESTENS SO FASZINIERT AUF DEN HORROR WIE SPÄTER BEI DER DUSCHVORHANGSZENE IN «PSYCHO».

Gertrude öffnete nun das Hinterteil des Vogels. Das war eine Zeit, als niemand sich etwas unter «Fisting» vorstellen konnte. Meine Tante aber war die Meisterin ihres Fachs. Unter flutschenden Geräuschen fingerlte sie nach Leber und Herz im Innern. Da kippte die Omama auch schon mit geflüstertem «Hach» ohnmächtig in die Salatschüssel. Ihr Blumenhut bedeckte die Büchsenerbsen.

Wir Kinder hatten kein eigenes Handy-Abo. Aber Gertrudes Hühnersonntage waren mindestens so heiss wie der Youtube-Kinderkanal. Sassen wir alle am Tisch, wurde das Poulet von Gertrude auf der Platte hereingetragen. Aus seinem malträtierten Hinterteil blühten jetzt Petersilien. Es waren die Grabesblumen des Federviehs.

Die Haut des toten Tiers lässt Parallelen an die erste Mister-World-Wahl in Ohio zu: Arnold Schwarzenegger, gut gesalbt im Satinhöschen. Der höhengesonnte Schwarzenegger hatte zwar mehr Beinmuskeln als unser Sonntagshuhn, aber keine Petersilie als Schlusspunkt - nur um korrekt zu sein.

Irgendwie hat dann diese Kette HÜHNERWALD aus Wien das Poulet zur Sau gemacht. Plötzlich hühnerte jeder und alles. Die Hennen kamen gebraten im Körbchen, halbiert zwischen zwei Stück Weissbrot oder auch nur als aufgerüschte Stotzen. Der Hühnerpreis erlitt einen Sturzflug - und den ersten Männern wuchsen Brüste, weil die Zuchthühner mit irgendetwas gemästet worden waren, das den Östrogenhaushalt durcheinanderbrachte - ja, ja ihr Vegi-Tanten, ihr braucht gar nicht hämisch zu grinsen: Tofuschnitten sollen auch Nierensteine verursachen!

ZURÜCK ZU MEINER HÜHNERLUST. Vor der Vitrine ist sie mir vergangen. Man hat sie mir gerupft wie die Federn an den toten Tieren von Wädiswil. Da liegen halbierte Brüste, glänzend wie frisch gewachste Tesla-Kühler unter Vakuum. Ich bekomme das Huhn geviertelt, verschnitten und auch schon mit Soja mariniert. Die Stotzen im Achterpack sind geschält oder mit Haut zu haben. Mit Haut sehen die Schenkel allerdings aus wie die Backen eines Pubertierenden, der vergeblich die Akne bekämpft.

Endlich finde ich ein ganzes Huhn - seine Beine sind mit Gummiband gefesselt wie das Opfer einer Domina. Der Kopf ist ab. Und das Hinterteil kaum zu ahnen. Ich bin fast sicher, dass der Inhalt dort, wo die Petersilie hinkommt, alles schon maschinell weggerupft und in Dosenfutter für Sheba und Co verarbeitet worden ist.

Ich stehe andächtig und in leiser Trauer vor diesem Kühlhaus des Todes. Da ertönt - dingdong - die Reklamestimme aus dem Lautsprecher: «Für unsere Kundschaft tun wir alles - und alles nachhaltig. Unser Nachhaltigkeitsengagement ist kein leeres Wort.»

Ich werde Peter die gute alte Olga abkaufen. Suppenhuhn ist auch okay. Und nachhaltig.

Montag, 9. August 2021