Vom Wunsch, das Meer zu sehen, und Eislutschern

Illustration: Rebekka Heeb

Dora hatte das Meer gesehen! DAS MEER!

Dora war knapp sechs Jahre alt. Aber sie konnte nerven, wie Stubenfliegen. Immer rieb sie sich die dünnen Beine. Schwirrte um einen herum. Und gab dick an: «ICH SAGE EUCH - ES IST WIE EIN RIESIGES SCHWIMMBECKEN IN SILBER UND PERLEN GEFASST. AM STRAND ABER VERTEILEN NETTE MÄNNER EISLUTSCHER, DIE SIE GELATI NENNEN. UND ÜBERALL HAT ES HAIFISCHE, MIT DENEN MAN MENUETT TANZEN KANN... ACH, DAS MEER. DAS MEER...»

Dora verdrehte schwärmerisch die Augen - dann schoss sie ihre Munition eiskalt auf die Trämlerstochter ab: «...aber natürlich wird das nichts mit dem Haifisch-Tanz, wenn man einen Schellentramper als Vater hat! Da werden es wohl wieder Herisau oder die Grimmialp sein.»

Doras Vater war Prokurist in einer Bügeleisenfabrik. Er fuhr nicht das Sechsertram - sondern einen der ersten Borgward im Quartier. An der Prokuristen-Mutter wucherten schon damals Hermès-Tücher um den ausgemergelten Hals. KÖNNT IHR EUCH DIE FAMILIE VORSTELLEN? - Ihr könnt! Der Vater: Autowaschen am Samstag und ein Verhältnis mit der Vorarbeiterin aus der Bügelbrett-Abteilung. Die Mutter: totes Tier am Arsch und dauergewellt.

Wir wussten damals noch zu wenig über Killer-Haie. Sonst hätten wir ihnen Dora samt Familie zum Frass vorgeworfen. So aber war ich reine Bewunderung. Und mit dem heissen Wunsch infiziert: ICH WILL ENDLICH AUCH MIT DEN HAIEN TANZEN! Wenns dann noch ein Gelato-Männchen als Zugabe sein soll - MIRAUCHRECHT!

Zu Hause ging ich meinem Alten zünftig auf den Sack: «Alle gehen ans Meer! Nur ihr schleppt mich immer nach Adelboden...!» Meine Mutter drückte energisch die Marylong aus und stellte sich vor, es sei die Oma: «Wenn dir Adelboden nicht passt, buchen wir Seiner Königlichen Hoheit gerne einen vierwöchigen Schwimmkurs im Eglisee. Dort kann der kleine Prinz dann fürs Tauchbrevet mit den Enten Cancan tanzen...»

Der Vater aber zwickte mir in die Nase: «Komm schon - was gibt es Heisseres als eine Kletterpartie am Lohner!»

Heute fahren die Basler Trämler auf den Schienen in die internationale Welt nach St-Louis oder Weil am Rhein. Damals aber wurde bei der Grenze haltgemacht. So etwas prägt. Das Adelbodner Vogellisi wurde für den Trämler-Hans zum Nabel des Universums.

Erst 10 Jahre später erfüllte sich mein meer-fach deklamierter Wunsch: «ICH WILL MEHR FERIENSPASS - ICH WILL MEER!» Meine Mutter hatte von Briefträger Märkli einen Tipp für Eins-a-Rollmöpse zugeflüstert bekommen. Adresse: Hummelallee, Hamburg.

Da sie ihrer verwöhnten Kundschaft nur das Beste vom Besten anbieten wollte, packte sie das verbeulte Auto und ihren straffen Sohn: «Komm schon, Tucki - Walfische warten auf dich. Und Lutscher bekommst du auf der Reeperbahn» WER MIT ROLLMÖPSEN HANDELT, KANN KEINE DAME SEIN! Wir jagten also über diese Autobahnen, von denen die deutsche Kriegsgeneration noch bis zum letzten Zahn raunte: «Man kann über Adolf sagen, was man will - aber Strassen bauen konnte er!»

In Hamburg nahmen wir uns ein billiges Hotelzimmer am Hafen. Aber die Fenster gingen in den Hinterhof. So habe ich statt Meer rostige Blechtonnen mit stinkenden Fischresten und fetten Ratten drumrum gesehen.

Natürlich unternahmen wir die obligate Hafenrundfahrt. Aber das Touristenboot war immer eingekeilt von riesigen Dampfern. Und wenn mich Mutter aufgeregt in die Rippen stiess: «Dort... dort... das Meer!», hatte sich prompt wieder so ein Riesenkahn vor uns geschoben. Ich sah nur turmhohe, dunkle Schiffswände mit Namen wie «NEPTUN». Oder «DIO MIO». Immerhin - wir hievten dann in einem Hinterhof der Hummelstrasse drei Dutzend Rollmopsdosen in die verbeulte Karre. Jede Konserve hatte die Grösse eines Kinderkarussells. Und auf dem Blech stand: «MADE IN CHINA!» Chinesische Möpse - schon damals!

Vater erwartete uns in Basel vor der Haustür: «...und jetzt gehts ab auf den Wildstrubel!» Als wir zwei Tage später auf der Engstligen zum Berg aufstiegen, blieb er für einen Moment stehen. Er zeigte auf die grosse Alp am Fuss des Strubels: «Siehst du - d a s hier ist das allerschönste Meer!» Der Wind steichelte zärtlich über die vielen Matten. Die Gräser wogten in Wellen hin und her. «Das Meer ist überall. Vor allem: Es ist in jedem von uns - wir müssen es nur sehen...», so lächelte mein alter Herr. Und gab mir eine Kopfnuss: «Komm - der Gipfel ruft!»

Die Sommerferien dieses Jahres fühlen sich für mich an wie damals, als Dora ans Meer fahren konnte. Und ich hierbleiben musste. INNOCENT HAT SECHS MONATE THERAPIEN. ITALIEN IST WEIT, WEIT WEG. Ich vermisse das Wellenschlagen vor unserer Maremma-Hütte. Ich vermisse das wogende Wasser in der Nacht - und den silbernen Glanz, wenn der Mond das rabenschwarze Wasser küsst.

Ich sitze in Adelboden vor dem kleinen Chalet. Stiere traurig vor mich hin. Und plötzlich weht ein Wind über das dünne Haar, als ob er mich streicheln wollte. Die Luft bittet alle Gräser zum Tanz - die Halme wiegen sich sanft hin und her. «...das Meer ist in uns allen!», höre ich meinen Vater sagen.

Und vergesse alle Traurigkeit.

Montag, 12. Juli 2021