Manchmal ist die Verwirrung im Alter ein Glücksfall. BEI INNOCENT IST ES SO.
Es begann mit den Namen. «Wie heisst die noch mal?» Okay, das passierte uns jeden Tag. Ich kann mich an jene schreckliche Zeit erinnern, als ich in Basel einen Klatsch schreiben musste. JAWOHL: MUSSTE! Die hätten mich doch als schräge Tulpe zum Teufel geschickt, wenn ich nicht die Sache mit dem Klatsch aufgeschnürt hätte. Vorher versenkten sie mich in die Börsenabteilug der Wirtschaftsredaktion.
Das war so lustig wie «ECHT BIO» aufs Ei zu stempeln.DESHALB ENDETE ICH DIE BÖRSENKURSE JEWEILS IN GEDICHTFORM. KREATIVITÄT WAR DAMALS NICHT HOCH IM KURS. SELBST PICASSO TÖPFERTE NOCH EIERBECHER.
Heute braten Comedians oder Tanzgruppen während der Corona-Zeit ein Spiegelei auf Youtube. Sie stellen es als «Mein Tagebuch» online. Und schluchzen in die Röhre: «Wir müssen weiterhin kreativ bleiben!»
Vor 50 Jahren jedoch war ein kreativer Börsenkurs mit der Schlusspoesie «Ist die Roche auch tief im Loch - kaufen wir sie morgen doch!» ein böses No-go! Die Redaktoren schrien, als wären sie in der «Arena». So musste ich den Hut nehmen. Und kam ohne diesen, aber mit der Idee «Wir machen eine Klatschspalte!» wieder zurück.Wieder Gezeter in der Redaktion! Doch der kluge Verleger sah die Pinke und klopfte mir auf die Schulter: «Sie haben den Job - aber denken Sie daran: Das Wichtigste sind die Namen!»
DA WÄREN WIR WIEDER AM ANFANG DER GESCHICHTE: Von jedem Anlass hatte ich die Namen spätestens nach zwei Stunden wieder vergessen. Es muss eine freudsche Verdrängung gewesen sein. Ich hasste den Job. Also blendete ich ihn aus - und mit ihm die Namen.
Nun packte mich also Innocent vor einem Jahr, als er die Besitzerin des Meranerhofs auf uns zuhuschen sah, am Ärmel: «Wie heisst die noch mal?» Ich flüsterte: «Eisenzaun.». Sie heisst Eisenkeil. Aber ich hatte das vergessen. «Buongiorno Frau Eisenbein», sagte Innocent. Sie lächelte ihn an: «Gottlob sind Sie hier! Die Küche ist schon total unter Wasser.» Auch sie konnte sich nicht mehr an den lustigen Vogel aus der Schweiz erinnern. Und hielt ihn für den Klempner.
«Vergesslich sind wir alle», versuchte ich am Anfang alles zu bagatellisieren. Ich schaltete den Herd hinter Innocent ab. Und den Fernseher ein, weil er nicht mehr wusste, wie das funktioniert. Anfangs wurde er wütend, wenn er sich nicht mehr erinnern konnte, wo er seinen Gehstock gelassen hatte. Mit der Zeit lächelte er über seine Vergesslichkeit. Und wir haben jetzt zwei Dutzend Gehstöcke.
Remi, sein Arzt, ist gottlob ein vernünftiger Mensch: «Mit 86 muss er ja keine Relativitäts-Theorie mehr aufstellen - lass ihn in seiner Welt!» Also liess ich ihn. War einfach da. Und schaute, dass er die Blutdruckpillen nimmt. Dann kam diese Müdigkeit. Er wollte kaum mehr aufstehen. Remi tat sein Möglichstes. Aber schliesslich mussten wir Innocent zur Untersuchung ins Spital bringen. Das Resultat war nicht schön. Und er musste bleiben.
Da wir uns als Partnerschaft - GOTTLOB! - offiziell registrieren liessen, durfte ich Innocent besuchen. Er hatte ein grosses Zimmer, dessen Balkon in den grossen Park ging. Ich brachte jeden Tag Süssigkeiten. Und wir schauten zu diesen Bäumen, die genau so knorrig und alt sind wie wir auch. «Welches Zimmer hast du in diesem Hotel?» Ich nehme seine Hand: «Ich wohne nicht hier.» «Aha - und wo bin ich hier?» «Im Claraspital.» Beim nächsten Mal dann: «Wo ist dieses Hotel Clara? Auf dem Weg zu unserer Insel?» Ich zeige ihm die Roche-Türme: «Wir sind im Kleinbasel.» «Und wann kommen wir auf der Insel an?»
Die Ärztin versucht, mich zu trösten: «Das bringt der erste Zyklus mit sich.» Sie sagen nicht Chemo. Und: «Das legt sich wieder!» Er liegt im Bett. Die Medizin, die alles in den Griff bekommen soll, tropft in ihn rein. «Es wird ihm vermutlich schlecht werden. Er wird schwitzen, vielleicht lassen Sie besser einen Besuchstag aus!», hatten die Pflegefachfrauen geraten. Wie soll ich ihn alleine lassen? Ich besuche ihn doch auch für mich! Für mein Seelenwohl. Was bin ich ohne ihn? - DAS BRAUCHEN WIR NICHT ZU DISKUTIEREN!
Jetzt lacht er mir also mitten in seiner Therapie entgegen: «Die haben an mir herumgewirtschaftet. HAST DU DIE SCHOKO-ORANGENSCHNITZE VON SCHIESSER MITGEBRACHT?»
Kein Fieber. Keine Übelkeit. Während der zweiten Halbzeit
der Therapie mümmelt er sämtliche Schokoladenschnitze rein. Zwei Tage später nehme ich ihn heim. Er geht als Erstes auf seine Terrasse. Und schaut auf die Bäume des Missionsgartens: «Im Hotel Clara sind die Bäume älter.» Dann zu mir: «Leg dich hin. Ich koche heute. Die Autofahrt von Italien hierher war für dich doch sehr anstrengend.» Claraspital zur Birmannsgasse: 20 Minuten.
Die grosse Vergesslichkeit hat auch wunderbare Seiten....