Früher war es das Sonntagsgeschirr. Jetzt frisst unser Nachbarskater, HERR LUMPI, unsere Resten-Crevetten daraus. Manchmal sind die Ameisen schneller. Aber das ist s e i n Problem.
Meine Eltern haben das grosse Service auf die Verlobung geschenkt bekommen. Damals gabs noch Verlobungen. Links die eine Verwandtschaft an den Tischen, rechts die andere. Meine Mutter alterte jedes Mal fünf Jahre, wenn sie die Tischpläne zeichnen musste: «Es ist wie bei der Schlacht zu Morgarten - keiner weiss, was auf uns zukommt!»
Das war sehr naiv. WIR WUSSTEN ES ALLE: Morgarten hat es uns schliesslich gezeigt. - Die Köpfe mussten rollen. Und so waren Verlobungs- oder Hochzeitsfeiern immer die grosse Schlacht im Kleinen.
Nun - es gab auch Nettes: Wir Kinder durften aus dem Autocar Bonbons werfen. «Feuersteine» hiessen sie. Es waren Prothesenknaller in süss. (Sie wurden von der Zahnärzte-Gewerkschaft subventioniert.) Überdies gabs vor dem Essen lustige Einlagen.
Heute würde man einen Fernsehmoderator oder Frau Basler engagieren. W i r hatten Tante Milli.
Milli erschien als Putzfrau. Sie verteilte dem jungen Paar verschiedene Saubermacher: Besen Wischer Kernseife Bei den Bürsten brachte sie immer dieselben ungeputzten Witze. Alles lachte schallend. Wir waren keine vornehme Familie. ABER IMMERHIN HATTEN WIR SCHON DAMALS UNSEREN HAUSEIGENEN COMEDIAN.
Vor der Verlobungsfeier wurde der «Gooberodel» (eine Wunschliste) herumgereicht. Man durfte etwas ankreuzen: Drei Abtrocknungstücher... ein Set Likörgläschen (sehr beliebt)... oder die Brotbüchse mit den aufgedruckten Ähren.
Beim obligaten Service kreuzte jemand eine Platte oder «drei Teller» an. Beim Sonntags-Service, das sich meine Eltern ausgesucht haben, muss etwas schiefgelaufen sein. Jedenfalls standen auf dem Gabentisch dann 120 flache Teller, drei Suppenschüsseln, aber nur zwei Suppentassen.
DAS WAR DER GRUND, WESHALB ES BEI UNS NIEMALS BOUILLON MIT EI GAB.
Ragout und Erbsen wurden in den riesigen Suppenschüsseln serviert. Die einzigen Suppentassen waren für Mayonnaise und Peterli reserviert. Im Gegensatz zum «Wochengeschirr» hatten die Sonntagsteller silberne Ränder. Unter der Woche war Gold. Man nannte es «s Goldrändli». Der Service kam aus einem Warenhaus, das sich Epa nannte. Weshalb ausgerechnet der Werktag goldig und der Sonntag nur silbrig war, entzieht sich meinen Forschungen.
Die Teller des Verlobungsgeschirrs zeigten sich gerippt. Sie liefen in einer Spirale zum Mittelpunkt. Porzellantechnisch wie aus dem Blickwinkel der Avantgarde war das eine grosse Sache. Serviertechnisch nicht - die Erbsen kullerten nämlich SOFORT wie bei einem «Gluggerturm» auf den gerippten Schienen ins Zentrum.
Da zum Ragout i m m e r Büchsenerbsen (grob) serviert wurden, spielte der Bub «Erbsen-Wettkullern» und bekam eins an die Löffel.
APROPOS LÖFFEL! Diese waren silbern. Und behämmert. Man musste selber sehr behämmert sein, um Töchtern eine Aussteuer zusammen zu kaufen, die später in einer Besteckschublade unberührt an den schrägen Buben vererbt wurde. SO. JETZT MÜSSEN WIR ENDLICH ZUM SONNTAG KOMMEN!
Ich meine: Das w a r e n noch Sonntage. Der Bub wurde herausgeputzt wie das Ei zu Ostern. Die Schuhe waren gelackt. Das Haar ebenfalls.
Und weil mein Vater in mir den künftigen Bundesrat sah, bekam ich eine Fliege um den Hals geschnallt. Sie hing an einem Gummiband. Um das Elend erträglicher zu machen, stellte ich mir vor, es sei das Brillanten-Collier, das die damals junge Königin zur Trauung getragen hat.
Sonntag für Sonntag wurde nun die «steife Pracht» geöffnet. Das Zimmer mit dem schweren Buffet und Böcklins Toteninsel darüber erinnerte an einen protestantischen Gemeindesaal: unpersönlich. Kalt. Und mit den immer gleichen Allerwelts-Sprüchen: «Ach Lotti - keine kann den Ragout so wie du...»
Lotti konnte gar nicht. Sie liess sich die Sache jeweils am Samstag von der Waschfrau Schnebeli fertig gekocht aus Binzen mitbringen. UND DIE ERBSEN ROLLTEN IN DER BÜCHSE AN.
Als Frau Schnebeli eines kalten Winters von einer Tanne erschlagen wurde, musste das Menü geändert werden: Rahmschnitzel mit Nudeln und Erbsen - das Sonntagsgeschirr aber blieb.
Und die Erbsen rollten sich auch künftig in den Mittelpunkt: Erbsen waren die kulinarischen Rampensäue jener Zeit.
Mit den Jahren bekam ich Freude an diesem seltsamen Porzellan aus den «30ern», das keinen grossen Namen, aber eben diese ganz spezielle Form jener Zeit zeigt.
Den Rest des Sonntags hätte man mir allerdings entsorgen können: DER LÄRMENDE SCHIEBER UM DEN GRÜNEN JASSTEPPICH. DAZU NOCH: DIE SCHWIEGERMÜTTER AM DAMAST.
Jene waren geladen wie die Kanonen zur Schlacht. Und feuerten alle drei Sekunden los: «Lydia - dieses blumige Kleid hast du schon letztes Mal getragen. Du bist eindeutig zu stark dafür!»
«Ach, Anna - wer sich als Waschbrett durchs Leben gearbeitet hat, spritzt immer eine miese Lauge!»
Und dann ging die Oper zwischen den beiden U-90-Primadonnen los.
Als die kalte Pracht für immer geschlossen wurde und mein alter Vater in eine kleine Wohnung umzog, rief er mich ins Haus: «Was machen wir mit den restlichen zehn Tellern? - Es sind auch noch zwei Schüsseln da.»
Wie gesagt: Der Kater fischt sich die Crevetten daraus. Einige der alten Hochzeitsgeschenke dienen jetzt als Blumentopf-Unterlagen.
Hin und wieder ziehe ich Herrn Lumpi das Sous-Plat mit den Crevetten vor der Nase weg. Und kratze die getrockneten Würmer von den Blumentopf-Untertellern.
Dann serviere ich Freunden ein Sonntagsessen darin: Ragout aus der (nur leicht angehickten) Schüssel. Und natürlich Erbsen, die noch immer theatralisch ins Zentrum kullern.
HIER NUN DIE FRAGE ZUM TAG: WESHALB GIBT ES KEINE DICKEN BÜCHSENERBSEN MEHR?
DIE WAREN AN JENEN SONNTAGEN NICHT EXTRA FEIN - SIE ROLLTEN SICH ABER AUF UNSEREM SONNTAGSGESCHIRR WESENTLICH EFFEKTVOLLER IN DEN MITTELPUNKT ALS DAS FEINE GEMÜSE VON HEUTE.
Ein bisschen wie unsere Milli mit der Bürstenschau.
Illustration: Rebekka Heeb