«Zieh einen Shawl an!» «Weshalb?» Die Schlüsselblumen sind geeist - der Weg frostweiss. April eben! Deshalb: «Ohne Tuch wirst du dich erkälten.» - «ICH ZIEHE K E I N E N Shawl an!»
Durchatmen. Auf 50 zählen. Dann: «Du darfst nicht krank werden, mein Ein und Alles!» «DEIN G E D Ü D E L MACHT MICH KRANK! Und nenn mich nicht EIN UND ALLES. Die Leute denken ja, du spinnst!» Pause.
Ich hole das dünne Halstuch mit der ganz speziellen Wolle. Wir haben die Kostbarkeit vor vielen Jahren in Syrien erstanden - als die Welt noch in Ordnung war. In Syrien. Und auch bei uns. «Was ist das für ein Tuch?» ICH WICKLE ES IHM UM DEN HALS: «Es kommt von Aleppo. Erinnerst du dich an den alten Souk - den schönsten Basar der Welt!»
Wir haben im christlichen Teil von Aleppo gewohnt - einer der schönsten Städte des Nahen Ostens. Damals. (Zwei Jahre später war Krieg. Und der Souk nur noch Schutt.) An den Ständen in den engen Gassen haben sie die herrlichsten Waren angeboten: orientalische Köstlich- und Kostbarkeiten. Den Massenschutt aus den USA, China und Taiwan gab es nicht. Dafür Säcke voll mit Safranblüten, Minze, Pfefferkörnern. Da funkelten auch Fläschchen mit ätherischen Ölen und Haremsträumen neben Pyramiden von geschnitzten Seifen aus Lorbeeröl.
Ein junger Mann sprach uns an. Zuerst denkt jeder, es sei plumpe Anmache. Aber natürlich geht es nur ums Geschäft. Der Schönling lotste uns zur Bude seines Vaters. Der Alte präsentierte diese kostbaren Shawls, die aus dem Kinnhaar der Kaschmirziege gewoben worden sind. ALSO: DAS TUCH FÜHLT SICH AM HALS SO AN, ALS WÜRDE SICH EINE HERDE KLEINER KÜKEN AN DEINE GURGEL SCHMIEGEN. ZART. FEDERLEICHT. UND SONNENWARM. Ich meine: Wer kann da widerstehen!
Ich drückte den Preis. Feilschte cool, heulte heiss. Und als der Händler nach Jammern, zuckersüssem Tee und Lamento («Du hast mich ruiniert!») die begehrten Dollarscheine einsteckte, servierte er uns einen «weissen Kaffee». Das heisse Getränk schmeckte nach Rosen und viel Honig. «DEN SHAWL KÖNNTEN WIR AUCH BEI C&A KAUFEN - ABER DIESES GESÖFF IST DEN WUCHERPREIS WERT» - soweit Innocent damals.
Jetzt also zupft er genervt am teuren Tuch: «Aleppo? Wer ist Aleppo? Ich will keinen Shawl von ihm!» - «Es hat knappe 3 Grad!» - «HÖR AUF, MICH ZU BEMUTTERN. ICH WEISS SELBER, WAS GUT FÜR MICH IST. DU KANNST WIRKLICH EINE HÖLLISCH NERVENDE GLUCKE SEIN!»
O.k. Vermutlich bin ich das. Ich gerate in Panik, wenn meine Hand über mein Leben und meine Lieben die Kontrolle verliert. Ich weiss, das Leben ist unberechenbar. Und in einem Interview habe ich kürzlich das träfe Sprichwort gelesen: « wenn du den lieben Gott zum Lachen bringen willst, erzähl ihm deine Pläne!» ABER WENN DIE SACHE DANN AUS DEM RUDER LÄUFT, SCHELLEN BEI MIR DIE ALARMGLOCKEN.
«Sie müssen loslassen können», hat mir der Arzt gesagt. «Herr Innocent kann sehr gut selber entscheiden. LASSEN SIE IHM SEINEN WILLEN!» AHA - und wer jagt dann ans Krankenbett und tupft ihm bei Fieber den Schweiss und die laufende Nase ab! DIES ALLES, WEIL ER NIE AUF MICH HÖREN WILL. UND BEI 3 GRAD AUF STUR STELLT.
Das Wort «Glucke» in seiner «bemutternden» Bedeutung habe ich nie gekannt. Andersrum: Ich bin nie begluckt worden. Man liess mich einfach machen. Das Kind war ein Zufallstreffer gewesen - und lief jetzt als «Drei Richtige»-Gewinn nebenher. Ich bekam alles, was ich wollte. Aber keinen Trost. Mutter versetzte mir, wenn ich mit verheulten Augen bei ihr auftauchte, geistesabwesend eine Kopfnuss: «Na, na, na - wird schon wieder! Hol dir ein Rippchen Schokolade aus dem Küchenkasten.»
So bin ich oft unglücklich und mit den Herren Nestlé, Peter, Cailler, Kohler gross geworden. Vielleicht hat dieser frühe Mangel an «behütet werden» mein späteres Gefühl zur Glugge geprägt. Ich wurde zur «Mutter der Nation» - auch wenn diese Nation nur meine kleine Familie, das «Ein und Alles» und ein paar engere Freunde umfasst. Ich organisiere allen das Leben. Schütze sie vor Torheiten und Gefahren. Und als Dank bekomme ich bei Meldungen wie «Ich bin für drei Wochen auf Reportage» immer nur ein fröhliches «GOTT SEIS GEDANKT!» zu hören.
Jetzt - wo Innocent etwas wirrer, schwächer und vergesslicher wird, wo er mit 86 Jahren die Hosenträger falsch herum knüpft und seine Ohren in den Zahnbecher legt - also jetzt ist es doch nur richtig und gerecht, dass ich ihn begluggen darf. LAUT UND DEUTLICH: «Jetzt lass dieses verdammte Tuch am Hals!»
Er schaut mich grinsend an: «Du hättest den Preis in Aleppo mindestens noch dreimal runterhandeln können - aber dieser weisse Kaffee mit dem Rosenwasser, der hats gebracht.» Manchmal denke ich: Der da oben amüsiert sich ganz gewaltig.
Illustration: Rebekka Heeb