Vom Schneefrühling und ersten Osterglocken

Illustration: Rebekka Heeb

Er wollte Blumen.

Der Regen macht ihn traurig: «In Adelboden wären wir im Bergfrühling...» - er schaut mich an wie der Dackel die offene Schappi-Büchse: grosse Augen, zitternder Schnauzer. UND SCHON WIEDER NICHT RASIERT!

«Ich habe ein grosses, tolerantes Herz - aber im Alter darf man sich nicht gehen lassen, Herr Innocent!» - «Du hast Ei im Schnauz!», kickt er den Ball zurück. DIE KLEINEN STREITEREIEN HÖREN AUCH NACH 53 EHEJAHREN NICHT AUF. Sagen wirs mal so: Sie sind die Maggi-Spritzer, welche die Brühe würzig halten.

DEAL: Er rasiert sich. Ich bürste das Ei raus.

Vorher rufe ich Christine, meine bäuerliche Nachbarin, an: «Wie ist das Wetter?» - «In Adelboden scheint immer die Sonne!» Man sollte Adelbodner nie nach dem Wetter fragen. Überhaupt niemanden, der irgendwo in einem Touristenort sein Brot verdient. DIE SAGEN NÄMLICH IMMER: «SONNIG!» Auch wenn es ihnen ins Handy kübelt.

«Ich höre aber hier am Telefon Tropfen klopfen!», knurre ich erbost über die Schönwettermacherei. - «NEIN - DAS IST DER SCHLECHTE EMPFANG!», sagt Christine. Habt ihr das Wort «BAUERNSCHLÄUE» schon mal gehört? - Habt ihr eben.

OKAY. ICH SAGE JETZT NICHTS MEHR. DENN INNOCENT IST REISEFERTIG. UND ICH HABE NOCH IMMER EI IM SCHNAUZ.

Natürlich wären wir gern nach Italien gereist. Jeden Morgen macht mich mein liebes Ein-und-alles fertig: «WANN FAHREN WIR IN DEN GROSSEN GARTEN!?» Ich bleibe ruhig. Atme durch. Und leiere zwanzigmal mein Mantra «Die Welt ist eine rosa Wolke - und ich sitze mittendrin!» herunter.

Frau Blöchli-Kalbermatten ist diplomierte Seelenraffel. Ich meine: Sie weiss, wo der Wurm hockt. Bei mir hat sie ein ganzes Beet davon ausgegraben: «Sie müssen lernen, alles gelassener an sich herankommen zu lassen. Stellen Sie sich vor, Sie liegen in einem warmen Meer. Und lassen sich von den Wellen tragen...»

«DA SEI GOTT VOR! Ich gehe nie ins warme Meer. Bei warmen Wellen kommen giftige Quallen!»

FRAU BLÖCHLI-KALBERMATTEN IST KUMMER AUF DER COUCH GEWOHNT. SIE LÄCHELT DIESES BESCHISSENE LÄCHELN ALL DERJENIGEN, DIE WISSEN, WAS FÜR DICH GUT IST. «Dann trocknen wir uns jetzt ganz schnell ab. Vergessen die Quallen. Und steigen auf eine rosige Wolke. Sie setzen sich mitten hinein... und schweben himmelwärts.» JA SO WEIT IST ES GOTTLOB NOCH NICHT!

Ich muss ziemlich giftige Blicke geschossen haben, denn Frau Blöchli-Kalbermatten serviert gleich den Schlüssel zum Bild: «Das ist eine Allegorie, Sie Guter!» Damit war Schluss mit der Couch-Liegerei bei ihr. «SIE GUTER» sagt nicht einmal mein Steuerbeamter zu mir!

Immerhin - wenn ich auf hundert bin, hole ich mir ihre Wolke. Und jage davon- so jetzt bei Innocent. Tief durchatmen. Und: «IN ITALIEN IST LOCKDOWN. WIR KÖNNEN, DÜRFEN, SOLLEN NICHT HIN!»

«Aha» - und wann lockern sie den Down?»

Ich rufe wieder die Wolke.

ADELBODEN ENTSCHÄDIGT UNS FÜR ALLES. Nun gut - es hat kein Meer, aber es hat das Hotel Bellevue, wo man im warmen Wasser planschen kann, ohne Gefahr zu laufen, dass Medusen ihre giftigen Arme nach einem ausstrecken. Es hat auch Kuchen in den Konditoreien. UND - HALLOHALLO! - ES HAT ERSTE KROKÜSSCHEN IN UNSERM GARTEN: Sie stupfen sich im Lila-Ton der schwulen Solidaritätsfarbe ins Leben. Ich meine, da freut man sich. Und zwar riesig.

INNOCENT ZÄHLT ALLE BLÜMCHEN AB: 28-MAL KROKUS, 15-MAL MARGRITCHEN... UND EINE OSTERGLOCKE BIMMELT AUCH SCHON. «Ist das nicht traumschön?», sagt er. Und will ein Bier. - «Es ist noch nicht sechs Uhr abends!», gebe ich die Hausregel durch.

«DER FRÜHLING KENNT KEINE STUNDE - NUR DEN MOMENT», sagt mein alter Philosoph. Wieder die Dackelaugen. Wieder das verschmitzte Lächeln. Ich schmelze wie das Raclette unter dem Hitzestrahler. Und «pfffft» - freut sich die Büchse mit dem Gerstensaft.

ABER JETZT! HALTET EUCH FEST! AM NÄCHSTEN TAG IST ALLES WEISS. Es gibt laut neuzeitlicher Klimaregel keinen Bergschnee unter 2000 Metern mehr - in Adelboden kümmert das die Flocken einen feuchten Dreck. Sie kommen fett wie Pfannkuchen. Und sie decken unser Auto ein, sodass nicht einmal mehr die eingehäkelte Klo-Rolle hinter dem Heckfenster zu sehen ist.

DER FRÜHLING HAUT MIR DOCH TATSÄCHLICH ANDERTHALB METER NEUSCHNEE VOR DIE FÜSSE. KROKUSSE, MARGRITCHEN UND DIE OSTERGLOCKE FINDEN TIEF UNTER DER WEISSEN DECKE STATT.

«Wann fahren wir nach Italien?», fragt Innocent. Durchatmen. Ich schwebe auf der rosa Wolke hinauf, wo es stürmt und schneit: «Sobald die Sonne scheint...» - «Und wann scheint sie?» - «Morgen; in Adelboden scheint immer die Sonne...»

DIE BAUERNSCHLÄUE SCHAUT SCHON DURCH DIE WOLKEN...

Illustration: Rebekka Heeb

Dienstag, 6. April 2021