Innocent vergisst. Er fragt mich: «Welchen Tag haben wir heute?» Ich sage: «Dienstag.» Nach zehn Minuten fragt er wieder: «Welchen Tag haben wir heute?» - «Dienstag.» So etwas macht dich traurig.
Anderseits: «Habe ich dir das Monatsgeld schon gegeben?» - «Nein.» «Entschuldige.» Er öffnet das Portemonnaie, «hier - bitte!» Nach zehn Minuten: «Habe ich dir das Monatsgeld schon gegeben?» - «Nein.» - «Entschuldige, hier - bitte!» Ich meine - so hat es auch seine guten Seiten.
Ich habe mit dem Arzt geredet. Er zuckte die Schultern: «Ihr Mann ist 86 - da müssen Sie damit rechnen!»
Er ist nicht mein Mann. Solche Bezeichnungen gehen mir auf den Sack. Er ist mein zweites Ich, mein Ein und Alles. Seit über 50 Jahren! Und ja - er ist 86. Und jetzt vergesslich. Manchmal nur noch in seiner eigenen Welt. Ja und?
Dialoge laufen etwa folgendermassen: «Gibts keinen Wein zum Nachtessen?» - «Der Arzt hat dir gesagt, du sollst wegen der Medikamente keinen Alkohol trinken.» - «Ich kann mich nicht erinnern.» - «Im Übrigen hast du zum Mittag essen den Barolo geleert. Ich weiss nicht, ob wir noch so eine Flasche haben...»
Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: «Im Keller. Neben dem Prosecco.» Das vergisst er nicht.
Er sollte die Schulter operieren lassen. Kein Grosseinsatz. Einfach ein Ersatzteil. Natürlich gibt es Voruntersuchungen. Doch er will nicht, dass ich mit ihm zu den Ärzten mitkomme: «Du bist eine schreckliche Glucke... ich vergesse. Aber ich bin nicht blöd. Und ich hasse es, wenn man mich so gängelt.»
Natürlich hat er recht. Also lasse ich ihn allein zu den Medizinmännern walzen. Danach kommt er heim: «Alles o. k. - die OP ist am Montag!»
Er will den Koffer selber packen: «Jetzt mach kein Theater; das sind ja nur fünf Tage. Was sind das für Pillen?»
Ich habe ihm alles in eine dieser Pillenschachteln mit den Tages zeiten und Mo-Di-Mi-Do-Fr abgezählt: «Die gibst du der Schwester.» - «Ich kann die auch ohne Schwester nehmen!
Dann mit einem Augen zwinkern: «Welchen Tag haben wir heute?» Ich rede ganz langsam und sehr deutlich: «SONNTAG. Heute um 17 Uhr musst du eintreten - morgen früh um acht ist die OP.»
Er grinst nun - seine Augen sprühen dieses Lachen, für das ich eine Karriere, vier Millionäre und meine beiden Papageien aufgegeben habe (er ist allergisch auf Federn): «Ich wollte dich nur prüfen fahren wir los!»
Am Spitalempfang geben sie ihm sofort einen Mundschutz: «Herzlich willkommen - wie ist gleich Ihr Name?» «Innocent», komme ich ihm zuvor. Er wirft einen Blick: «Hier bin ich der Patient. Also hör auf, mir dreinzureden.» Schliesslich zur Empfangsfrau: «Innocent.»
Sie tippt wild auf ihrem Computer herum. Bittet uns, an einem Tisch Platz zu nehmen. Dann tickert sie wieder. Schüttelt den Kopf: «Haben Sie einen Eintrittsschein?» Innocent sucht zwischen all den Pyjamas, Bettsocken und der Elektrozahnbürste. WAHNSINN: Er findet den Zettel. Händigt ihn aus. Und die nette Empfangsdame telefoniert nun wild herum. Schliesslich gibt sie mir ihr Natel, weil mein Ein und Alles das Hör gerät neben dem Mundspray versorgt hat und ohne Verstärkung nur Bahnhof versteht: «Hallo - ja, ich bin der Arzt. Herr Innocent war zur Besprechung hier. Die Blut werte sind zu tief. Wir haben ihm erklärt, dass wir die OP verschieben, bis die Werte besser sind.»
Wir stehen fünf Minuten später wieder draussen - mit allem Gepäck. Innocent: «Zumindest einen Mundschutz haben wir rausgeschlagen! Das ist einer der teureren Sorte.» Ich knuddle ihn: «Darf ich künftig zu den Ärzten mit kommen!?» - «GOTT, BIST DU EINE ZECKE!»
Ich füttere ihn seither mit Eisentabletten. Koche Spinat. Und brate die Kalbsleber nur kurz. Früher haben wir auf der Insel aufs Schönwetter gewartet. Jetzt warten wir, dass die Hämoglobin-Prozente steigen. Wir unternehmen an schönen Tagen Spaziergänge durch die Parkanlagen. Und freuen uns an letzten Schneeglöckchen. Und ersten Krokussen. Der Arzt hat gesagt: «Halten Sie ihn in Bewegung.» Ich war etwas verstimmt: «Soll ich ihn an die Hundeleine nehmen? Er lässt sich nichts vorschreiben!» Wieder zuckt der Mann im weissen Kittel die Schulter: «Nun ja - er ist 86!»
Es ist seltsam - nie habe ich ihn mehr geliebt als jetzt, wo er mich wirklich braucht. Das Wunderbare am gemeinsamen Altern - man kommt einander immer näher. Alles ist gesagt. Man braucht nur noch Nähe. Und ein paar Sticheleien, die das Feuer in den Augen entfachen.
Manchmal streckt Innocent seine knochige Hand aus: «Schön, dass wir einander haben...» Und dann gehe ich hinaus. Damit er mich nicht heulen sieht.