Natürlich wäre es heute unmöglich. Wir hatten an Silvester die Bude voll. ICH MEINE - KEINE MASKEN! UMARMUNGEN ZUM ABWINKEN. UND EIN STALL VOLLER RÖSSIGER TANTEN, WELCHE DIE GELEGENHEIT NUTZTEN, DEN ALTEN HAMMEL ABZUSCHLABBERN - UND SEINEN SCHÖNEN JUNGEN AUCH!
Gott wie ich das hasste. Selbst als ein halbes Jahrhundert später die Küsschen-Küsschen-Zeit kam, habe ich mich noch immer dem Akt verweigert - wie die Jungfrau dem Teufel. Das Allerschlimmste: Die Tanten schmierten sich scharlachroten Lippenstift ins Gesicht. SIE WAREN ES SICH WERT. Das Blutrot wurde so dick aufgetragen wie Parteiparolen vor den Wahlen. VOLLFETT! Also hinterliessen die Küsschen dicke Spuren auf der zarten Wange des Kindes. Es sah aus, als wäre beim Jungen die Scharlach ausgebrochen.
UND JETZT DAS ALLERARGSTE: Die Weiber spuckten in ihre weissen Taschentücher. Und rubbelten an der zarten Backe des Buben herum. AU BACKE! MAN KANN ÜBER CORONA SAGEN, WAS MAN WILL - ABER SO ETWAS HAT DAS VIRUS DEN KINDERN DOCH ERSPART.
Also - die Bude bebte. Im Esszimmer waren die zwei grossen Tische an die Wand gerückt und die Teppiche eingerollt worden. Hugo hatte nämlich heisse Platten mitgebracht - Hugo war der Hallodri von der Omi-Seite. Er machte sein Geld mit Popcornmaschinen. Und war so agil wie sein amerikanisches Explosions-Mais. Man kennt diese Typen: Wenn sie loslegen, knallts in den Pfannen.
Ich ritt schon damals eher die sentimentale Welle. Und wünschte mir von diesem Hobby-Discjockey traurige Lieder wie «Es hängt ein Pferdehalter an der Wand». Oder «Cindy, oh Cindy - du darfst nicht traurig sein». Aber solche Weisen schlugen der munteren Silvester-Schar auf die Eier wie heute alle die verrammelten Discos. Die Meute wollte rocken. Denn Rock war mit Elvis von jenseits des Teichs importiert worden. Doch Hugo war in seiner Musik-Linie stur wie ein Dackel - er wollte nur deutschsprachige Interpreten. Also hörten wir hundert Mal Peter Kraus mit «Sugar Sugar Baby» oder Bill Ramsey mit «Souvenirs». Und wenn ich lauthals protestierte, das sei ein mieser Stilbruch, legte er mir zum Trost Conny Froboess auf. Heute ist die Conny ja eine berühmte Schauspielerin.
Aber damals rockte sie noch mit Peter Krauss. Ihr meistverkaufter Song war ein Kinderlied, das man nun zu meinen Ehren eine Viertelstunde vor Neujahr auflegte: «Pack die Badehose ein!» Drinnen tanzte die Meute - draussen tanzten die Schneeflocken. BADEHOSEN? - ICH BITTE EUCH!
Das Netteste war immer das grosse Buffet. Nach den Festtagsessen wollte Mutter «etwas Einfaches». Also gabs im Weihnachtsbaumzimmer drei grosse Tische. Auf Platten wurden «Brötli» ausgelegt. Und das waren nicht etwa Sandwiches oder doppelt belegte Hamburger - es waren Gräueltaten von Kinderhand fabriziert. Am Silvester-Mittag wuselten wir Binggis in der Küche herum. Auf der Anrichte standen Pakete mit Schinken, Salami und Zungenwurst. Daneben gabs Dosen mit Spargeln, Schüsseln mit gekochten harten Eiern, Teller mit Butter und Leberwurst - dazu einen Plastikeimer voll Mayonnaise.
ABER HALLO - das war die Palette, mit der wir Kinder die Brötchen belegen durften. Und da Mayo schon damals zum kulinarischen Highlight des Buben zählte, löffelten wir uns vor der Belegung gleich mal den Bauch voll, bis Mutter protestierte: «GEHTS NOCH! DAMIT WERDEN DIE SPARGELN UND EIER AUSGARNIERT. EUCH WIRD NOCH KOTZÜBEL...» Aber sie nahm das Ganze nicht besonders ernst - und bald einmal steckten wir ellbogentief in all den Töpfen mit dem Leberwurstaufstrich, dem Mettwurst-Parfait und dem Gorgonzola-Rahm.
MAN KANN NICHT SAGEN, DASS DIE PRODUKTION VIRENFREI WAR. WIR SAUTEN DA ORDENTLICH HERUM. SCHLABBERTEN DIE VERSENFTEN FINGER AB. UND GRIFFEN DANN WIEDER VOLL ZUR WURST!
Der Lebensmittel-Inspektor hätte geweint - aber wenn wir die Formenbrot-Dreiecke dann mit Bouquets von Petersilie, geschnitzten Radieschen und geringelten Sardellen aufbretzelten, sah alles ganz passabel aus. Die Gäste griffen jedenfalls wild zu wie die Hamster-Gilde beim Klopapier. Gegen sämtliche Viren half ihnen ein Gesöff, das auf Orangen-Wodka-Basis herumgereicht wurde. Je später der Abend, desto mehr Wodka...
Wenn Hugo dann zum feierlichen Moment den Gefangenenchor aus Nabucco auflegte und die Kirchenglocken das neue Jahr willkommen hiessen, wurden wir wieder abgeknutscht. Und mit Spucke-Tücher berubbelt... «Wenn ich mal gross bin, gibts bei mir keine Silvesterfeier. Nur Mayo», flüsterte ich Rosie zu.
UND SO HALTE ICH ES ÜBERMORGEN AUCH: INNOCENT UND ICH GÖNNEN UNS EINE PLATTE MIT MAYO-EIER-BRÖTLI. Und gehen spätestens um zehn Uhr in die Heia. Damit keiner auf die Idee kommt, uns mit nassen Küssen abzuschlabbern.
ABER VIRTUELL DARF ICH EUCH HIER ALLE ABKNUDDELN - UND EIN GUTES, JA BESSERES UND GESUNDES NEUES JAHR WÜNSCHEN!
DAS DANN DOCH!