Vom Baum mit dem Engelshaar

Illustration: Rebekka Heeb

Bereits eine Woche vor dem Heiligen Abend wurde die grosse Stube verrammelt. Mein Vater, stahlharter Mann mit dem Macho-Gehabe eines Silberrückens, wurde in den Adventswochen zum kleinen Buben, der mit verklärten Augen im Versteckten aus den Gutzibüchsen stibitzte.

Wir waren Weihnächtler. Und Mutter tat alles, um aus der Zeit vor dem Heiligen Abend ein Märchen zu machen: Sie legte Engelshaar auf den Fenstersims und behauptete, das Christkind habe in der Nacht hereingeschaut, ob hier auch liebe Menschen wohnen würden Sie ging murmelnd mit Geschenkpaketen durch die Wohnung («was da wohl drin sein mag?»). Und sie quittierte unsere Wunschbriefe mit einem Gütschlein Glimmer, den wir beim Aufwachen neben dem Bett fanden.

Diese Frau mit dem eiskalten Verstand einer Registrierkasse vergass für zwei, drei Wochen ihr Börsen-Einmaleins. Und schleppte vergilbte Kartonkisten mit all diesen Kugeln und dem Glitterzeug ihrer Jugend vom Estrich. Sie steckte sich eine «North Pole Filter» zwischen die Lippen. Köpfte eine Flasche Rotwein. Und rief: «Hans - den Spitz musst du...»

Also wurde die Tür einen Spalt geöffnet. Sie liess den Vater ins Weihnachtsland, auf dass er die Spitze des Baums schmückte. Die Krönung war ein kostbares Glasding, das aus drei (mit Goldfäden umsponnenen) Kugeln bestand. Nach dem Spitzen-Job wurde der Ehemann sofort wieder aus dem Zimmer hinauskatapultiert. Mutter zündete sich die zweite Zigarette an der ersten an. Und gab weintechnisch Gas («um in die richtige Stimmung zu kommen» - wie sie immer wieder behauptete!).

Der Baum wurde bunt. Kitschig. Und hätte bei den Redaktoren von «Schöner Wohnen» Gänsehaut verursacht. Überall funkelten die Kugeln der Vergangenheit - jede erzählte ihre eigene Geschichte. Und wenn dann endlich das Glöcklein uns alle zum grossen Moment ins Weihnachtszimmer bimmelte, blieb jeder immer wieder überwältigt stehen: Die Lichter waren gelöscht. Die Regie liess nur Kerzenfunkeln zu - Kerzen, die sich in all den bunten Kugeln hundertfach widerspiegelten.

Das Schönste aber: Mutters Baum war wie von einem magischen Zauber umhüllt: Engelshaar umwob ihn wie Seidenfäden den Kokon. Zwischen den gelblich-weissen gewellten Locken leuchteten Lamettafäden wie feine Blitze auf. Mutter hatte jeden dieser Fäden einzeln zwischen die Nadeln verteilt.

Damals wurde Lametta noch aus umweltbösem Blei hergestellt. Entsprechend waren die Fäden teuer. Die schmalen Dinger wurden am Dreikönigstag dann wieder vorsichtig von den Ästen gezupft. Mit dem warmen Glettyyse zwischen Tüchern wieder flachgebügelt. Und in Seidenpapier versorgt. Das Abnehmen des Engelhaars war mühsamer. Es hatte seine Dauerwelle verloren. Und sah aus, als wäre es von einer Herde Kühe wiedergekäut worden.

Kam dazu, dass das Material wie die Härchen der Hagenbutte in den Fingern stach. «Die Menschen wollen kein bissiges Engelshaar mehr», klagte Mutter immer wieder am Weihnachtsabend. «Ich bin in der ganzen Stadt herumgejagt, um noch eine anständige Qualität zu finden. Vermutlich tragen die Himmlischen jetzt auch diesen neuartigen Bubischnitt. Würde mich nicht wundern, wenn Engelslocken bald einmal von dieser Welt verschwinden würden. Jedenfalls habe ich für meinen Baum gleich mal einen Vorrat für die nächsten Jahre angelegt.»

Und so blieb unser Baum engelshaarig - selbst als in den 60er-Jahren schwedische Stroh-Décors an Föhren propagiert und danach Bäume so einfarbig wurden, wie es politische Parteikumpane zu sein hatten - bei uns gabs nichts von allem: Noch immer liessen die Engel ihr Haar an den Ästen. Und dahinter hatte das Christkind sein geheimnisvolles Silberblei über die Äste gegossen.

Nach Mutters unerwartetem Tod war Pause. Niemand wagte sich an den Baum. Wir suchten neue Wege: ein riesiger Adventskranz etwa. Der machte alles nur noch trauriger. Lichterpyramiden mit Kunststoff-Kerzen - zum Abwinken!

Als Vater das Haus aufgab, bat er mich, noch einmal einen Baum mit Mutters Kugeln zu schmücken. Also holte ich die alten, vergilbten Schachteln ins grosse Weihnachtszimmer. Vater schleppte die Leiter an. Jetzt erst sahen wir, dass der Spitz mit den drei Kugeln ganz oben abgebrochen war. Auch die meisten Kugeln waren defekt. Mutter hatte die «gute Seite» jeweils nach vorne gedreht - so wie jeder von uns sich an diesem Tag von der besten Seite zeigte. Die silbernen Bleifäden lagen nun spröde im Seidenpapier - und das Engelshaar? Da war nur noch eine einzige Packung - leer.

Mein Vater schnäuzte sich. Die Stimme des alten Silberrückens war gebrochen: «Unser Baum ohne Engelshaar - das macht alles keinen Sinn.»

«Weihnachten ohne Mutter macht keinen Sinn», sagte ich. Und streichelte seine Hand.

Dienstag, 22. Dezember 2020