Von mystischen Engeln und einem naiven Maler

Illustration: Rebekka Heeb

Engel sind nicht immer solche. Das hat schon die Kembserweg-Omi gemerkt: «Engels gesichtchen - Teufelskrallen!» war ihr Lieblingsspruch. Sie selber hatte kein Engelsgesichtchen. Sie kam da eher nach einem Schwergewichtsboxer... die Nase war platt... die Lippen aufgeschwollen (und dies zu einer Zeit, als Botox nur gegen Mistkäfer eingesetzt wurde).

Ihr Haar war dünn, und die Kopfhaut schimmerte durch. Und dann die Augen: Sie konnten keinen ins Visier nehmen, weil niemand recht wusste, wohin die Pupille rollte. Aber sie waren gütig. Liebevoll. UND BEI SISSI IMMER VOLLER TRÄNEN DES VERSTÄNDIGEN MITGEFÜHLS EINER EBENFALLS SCHWER GEPRÜFTEN FRAU.

Aber eben: Kam dann ein schönes Gesicht ins Spiel, reagierte die Omi stets etwas säuerlich. Und dämpfte die Jubelrufe ihres Sohnes abwehrend: «Du dummer Bub: Engelsgesichtchen - Teufelskrallen!» Also liess Hansi die Engelsgesichtchen vorbeiflattern. Mit Teufelskrallen war er auf der Gattinnen-Seite schon mehr als genug bedient!

Trotz ihrer Unkenrufe hielt sich die Omi einen Engel am Bett. Der vom Himmel Gesandte war so gross wie ein Drei-Liter-Milchhafen. Und er war aus Porzellan. Nichts Grossartiges wie Meissen oder Nymphenburg. Nein. Die Flügel standen dick wie Fleischkäse-Scheiben in die Luft... das Gesicht zeigte zwei verklärte Augen, die suchend zur Schlafzimmerdecke schauten. Und am Knie war ein Stück ab.

«Er ist mir in der Nacht einfach runtergefallen», flüsterte die Omi. «Als ob er mir etwas sagen wollte... gottlob war da nur das Knie kaputt. Aber drei Tage später war Hubertus tot!» Hubertus war Omis australischer Wellensittich.

Die Omi also glaubte an das Mystische ihres Engels. «Er hat mir Hubertus’ Tod vorausgesagt», flüsterte sie beim Sonntagsessen geheimnisvoll der Familie zu. Mutter knallte ihr brummend eine Frikadelle auf den Teller: «Dazu brauchte es keine himmlische Prophezeiung. Der Vogel ist eingegangen, weil er das Elend um sich herum nicht mehr ertragen konnte... JETZT HAT ER ES SCHÖN IN SEINEM AUFGERÄUMTEN HIMMELREICH!»

Das war ein Seitenhieb auf die unordentlichen Zustände der Schwiegermutter. Denn obwohl die Omi als Putzfrau die Böden schrubbte, dass man darauf ein Diner servieren konnte, war es mit der eigenen Ordnung nicht weit her! Die arme Frau war das, was man heute einen Messie nennt.

Zu den Engeln: Natürlich waren sie ganz mein Ding. Als Frau Zimmerli in der Kindergottesschule vom Engel der Verkündigung schwärmte und schilderte, wie der in seinem langen Gewand mit dem hellen Schimmer um das goldene Haupt die liebliche Jungfrau heimgesucht habe, da war mir klar: DAS DRAMATISCHE IST MEIN FACH. ICH WERDE ENGEL DER VERKÜNDIGUNG!

Im Kindergarten beim Krippenspiel haben sie mir die Rolle nicht gegeben. Grund: Ich steckte im falschen Geschlecht. Wer aber hat je behauptet, der Engel der Verkündigung sei weiblich gewesen? Das ist doch Diskriminierung! Männerfeindlich! Sexistisch betoniert! So wurde mir schon im zarten Alter klar: MÄNNLICHER ENGEL SEIN WIRD EIN STEINIGER WEG! Meine nicht sehr zartbesaitete Mutter redete Klartext: «Nichts gegen eine kleine Tunte, mein Sohn - aber beim ersten goldenen Engel, den du mir nach Hause schleppst, fliegst du mit ihm raus!»

Irgendwann lernte ich Ywan kennen. Ywan liebte Engel. Man kann sagen: Seine Wohnung war ein rotes Paradies, wo dem Besucher über tausend Engel zum Willkomm bliesen. Als junger Figaro ist er aus dem kommunistischen Jugoslawien nach Basel geflohen. Hat hier den Frauen die Locken gedreht. Irgendjemand hat ihm dann einen Engel geschenkt. Und dieser hat alle andern herbeigerufen. Als er die Lockenwickler gegen Pinsel eintauschte, waren die Engel sein naives Thema. So wurde er zum Engelmaler.

Manchmal wurde ihm alles zu viel: die Vernissagen, zu denen Hunderte von Fans in seine Engelsburg pilgerten... Er verschenkte die Sammlung - doch am andern Tag standen erneut Fans vor der Tür. Und schleppten ihm neue Boten des Himmels an. Selbst die verschenkten sah er auf dem Flohmarkt wieder.

Doch dann wurde es ruhiger um ihn. Die Opernklänge in seiner Stube klangen gedämpfter. Und eines Tages war es ganz still. Da waren nur noch Ywan und seine engelhafte Vergangenheit. «Er wollte einfach so gehen... ohne Trompetenstösse... ohne Klamauk...», weinte seine Freundin Maria.

Ywan und seine Himmlischen haben sich auf Engelsfüssen aus unserer Welt davon gemacht... ABER ENGEL VERGISST MAN NICHT...

Dienstag, 24. November 2020