Von toten Insekten in der Römer Wohnung und einsamer Poesie

Illustration: Rebekka Heeb

Seltsames Gefühl - ich stehe vor meiner Römer Wohnung. Auf den ersten Blick scheint alles wie sonst: Die Bugain villea protzt mit ihren viola-papierigen Blüten neben der Tür. Der Orangenbaum trägt bereits Kugeln. Satte Wintervorboten in Grün.

Ich ziehe die Schutzmaske runter. Ohne geht in Rom gar nichts. Im Taxi schon hat mich der Fahrer angeblafft: «MASCHERA!» Draussen spuken die Menschen gesichtslos, doch mit funkelnden Augen durch die Gassen.

Das kleine Schild mit meinem Namenszug an der Holztür ist total erblindet. Und die Vorhänge an den Fenstern sind zu. DAS LETZTE MAL HABE ICH SIE VOR SIEBEN MONATEN ZUGEZOGEN. UND DEN PALAZZO VOLLER VORFREUDE AUF DIE BASLER FASNACHT VERLASSEN. Aber das Leben hält immer eine Überraschungskarte im Spiel.

Ich drehe nun den Schlüssel. Im Innern der Wohnung ist es staubig. Still und stickig. Der silberne Samowar hat seinen Glanz verloren - er zeigt einen braunen Fleckenmantel wie meine alten Hände. Auf dem Steinboden liegen tote Spinnen herum, daneben eine Handvoll ausgetrockneter Fliegen - fast schon schwarze Poesie: Feinde im Tode vereint.

Ich versuche den Staubsauger anzuhoovern. Nichts da. Auch er hat den Geist aufgegeben. Der Eiskasten ist beängstigend still. Dafür tropft im Bad der Boiler mit einem melancholischen «dlagg... dlagg... dlagg...» fröhlich vor sich hin.

Und neben meinem Bett liegt der Fiebermesser, der mir im Januar das Mass aller Dinge angezeigt hat: 38,9. Natürlich dachten wir damals an eine Grippe. Und pulverten dagegen an. Ich hatte bösen Husten, Halsschmerzen - drei Tage später hustete auch Mimma. Die Frau des Portiere hatte mir «Riso in bianco» gebracht. Und Löffelbiscuits, die sie in heisse Honigmilch eintauchte. So husteten wir bald gemeinsam. Und ahnten nichts von Viren-Tröpfchen und Corona.

Als ich in Basel dann vor den Sommerferien meinen Professor Philipp bei der alljährlichen HIV-Untersuchung madig machte: «Ich glaube, ich habe diese Corona-Sache bereits im Januar durchgezogen - ich möchte das testen!», da zuckte er die Schultern: «Klar. Können wir. Aber was bringt es? - Wenn es Corona war, wissen wir nicht, ob du jetzt wirklich immun bist. Wir wissen überhaupt noch sehr wenig.»

Immerhin - eine ehrliche Antwort. Ich wünschte mir mal so eine klare Aussage von den Meteorologen. Bei deren Prognosen ist es wie bei den täglichen Corona-News: ich werde mit Infos vollgelabbert - und weiss zum Schluss doch nicht, wie alles werden wird.

Ich reisse in der Römer Wohnung jetzt alle Fenster auf. Im Hof ist es gespenstisch still. Auch das gemütliche Gurgeln der alten Wasseruhr ist verstummt. Nur die Möwen lachen immer wieder hysterisch auf.

Ich stülpe die Maske über. Und gehe ins Pförtnerhäuschen. Dort sitzt Mimma - ebenfalls vermummt. Sie hüpft von ihrem Stuhl auf - ich breite die Arme aus. Dann stoppen wir beide - wie Marionetten, denen man die Fäden strammzieht: DISTANZ! Dieses NICHT-UMARMEN-KÖNNEN macht mich fertig.

MIMMA ERZÄHLT, DASS SIE DIE RÖMER PORTIERE- WOHNUNG VIER MONATE NIE VERLASSEN DURFTE.

Sie lebt in einer Küche, die ein vergittertes Loch auf die dunkle Gasse hat. Dann ist da noch ein enges Schlafzimmer, das sie mit Franco teilt. Es hat keine Fenster. Nur Tapeten mit Rissen und ein leeres Holzkreuz, hinter dessen Rücken die Palmsonntags-Palmblätter des vorletzten Jahres grau vor sich hin dörren. «NO PULIZIA! ICH KONNTE NICHT PUTZEN!» - entschuldigt sie sich.

Mimma hat den Gatten nach Kalabrien geschickt: «Er hat eine schwache Lunge - und im Süden ist es besser mit den Zahlen», erklärt sie. «Seit der Lockerung muss ich auch noch seine Arbeit erledigen - dies, obwohl wir seit März beide keinen Lohn mehr ausbezahlt bekommen haben.» Und die versprochene Regierungshilfe? Sie wischt die Regierung verächtlich aus dem Gespräch: «Il Governo! Du kennst das doch: Die Rettungsgelder von Europa werden zuerst unter denen verteilt; bis ein paar Euro zu uns fliessen, sind wir ausgetrocknet wie die Fliegen in deiner Wohnung!»

Ich gehe zum Pantheon. Eine Schulklasse steht davor. Sie muss sich die Temperatur- Pistole an die Stirn halten lassen. Eine junge, schwarz gekleidete Frau posiert auf der leeren Piazza. Sie deklamiert Poesie - laut. Und mit wunderbarer Aussprache. Keiner bleibt stehen. Oder hört zu. Es gibt den Abstand vor dem Virus - aber keinen Respekt vor der Poesie.

Ich bücke mich und werfe ihr einen 5-Euro-Schein in den Sommerhut. Sie hat diesen mit einem Pappschild vor ihre Füsse gestellt: «GRAZIE - LA VITA È BELLA». Man darf nie aufgeben. Ich gehe in die Wohnung zurück. Und wische die toten Insekten zusammen...

Dienstag, 29. September 2020