Von einem Mü Joghurt und den Bomben über Kembs...

Illustration: Rebekka Heeb

HALLO - BEI INNOCENT GEHT BEIM KLEINSTEN ÜBRIGGELASSENEN KLACKS JOGHURT DIE POST AB! ES IST IMMER EIN KLACKS, AN DEM SICH DIE KRIEGE DIESER WELT ENTZÜNDET HABEN.Innocent nimmt also meinen Joghurtbecher vom Teller. Äugt hinein. Und drückt seine tränenden Gucker zu engen Schlitzen zusammen: «Du hast w i e d e r nicht sauber ausgeputzt.» NA - JETZT WISST IHR ABER, WAS LOS IST!

Er selber löffelt seinen Joghurtbecher mit totaler Hingabe. Kommt er zum Ende, setzt ein hektisches Konzert an: Tausende von Schabgeräuschen vermischen sich mit seligen Seufzern. Dazu ein energisches «Dlaggdladlagg»-Löffelchen-Geblabber». Pause ist erst, wenn der Becher so arschblank ist wie ein frisch gesalbter Kinderpopo. Gut. Ich gehe der Sache ebenfalls auf den Grund. Mehr kulinarisch. Und ich schabe nicht. Sondern drücke meine Morgenzigarre im Becher aus. Muss ich noch mehr sagen? DIE SCHLACHT BEGINNT!

«Dir hat ganz einfach der Krieg gefehlt. Hättest du den Krieg miterlebt, würdest du dein Essen nicht so vergeuden.»

VERGEUDEN? IN MEINEM JOGHURTBECHER KLEBEN HÖCHSTENS NOCH DREI MÜ INHALT.

Ein Mü - auch My geschrieben - bedeutet: ein Mikron. Und dies wiederum ist ein Millionstel von einem Meter. Jetzt rechnen Sie mal selber. Gut - die Joghurt-Müs (Mikronen) pappen sich mit 12 Müs Zigarren asche zusammen. ABER MUSS HERR INNOCENT DESWEGEN JETZT DIE WELT UNTERGEHEN LASSEN!?

Er setzt jetzt wieder dieses Besserwissergesicht auf, das mich die Wände hochjagen lässt wie Messmer die Berge zu seinen besten Zeiten: «Du hast doch jene Zeit gar nicht miterlebt...» JENE ZEIT? «Du warst doch gerade mal sieben, als «jene Zeit» ihr tausendjähriges Ende nahm.» Er rümpft die Nase: «Aber die sieben Jahre haben mich geprägt. Ich sehe den Paidol-Brei immer vor mir. Wir warteten auf unseren Vater, der in der Bank noch zu tun hatte. Meine Schwester und ich hatten schon lange gegessen: Paidol-Bäbbli, wie es auf Mundart hiess.

Dem Vater aber wurde ein Spiegelei gebraten, weil er es zum Prokuristen gebracht hatte. Das Ei war der Lohn für Ehrgeiz. Und was tat der gute Vater? Er stiess mit einem Stück Brot ins Goldene vom Ei. Und wir Kinder durften den Dotter von der Krume weglecken. JA MEINST DU, DA SEI EIN MÜ DOTTRIGES ÜBRIG GEBLIEBEN?!»

Ich kann es nicht verkneifen: «Kein Mikron Ei? Null Mü Dotter?»

«WILLST DU MICH VERARSCHEN - WIR HÄTTEN NOCH DEN TELLER VERSCHLUCKT, WENN IHN DIE LIEBE MAMMA NICHT WEGGEZUPFT HÄTTE! DAS war Krieg. Und davon erholst du dich nie.» Ich schweige nun zerknirscht (na ja - ich tue so). Dann: «Hast du das mit sieben Jahren so echt mitbekommen?»

«ES HAT SICH EINGEPRÄGT WIE EINE SKISPUR IM SCHNEE! DAS BEKOMMST DU NICHT MEHR LOS!» Seine Stimme wird jetzt weinerlich: «Ich erinnere mich noch an jenen schrecklichen Tag, als die Mammama und ich im obersten Stock des Globus waren. Die Mammama hatte Ess-Marken mitgenommen. Und wir leisteten uns eine Cremeschnitte zu zweit: sie das Blätterteigbodenteil. Ich die Fondant-Masse oben...»

«Also das finde ich jetzt aber auch nicht besonders chic.»

«Was weisst du denn schon von jenen Jahren, als sie den Zucker im Safe aufbewahrten. Also schweig. Und hör zu: Wir gäbelten eben an der Köstlichkeit herum - der Globus war damals eines der höchsten Häuser der Stadt. Im obersten Stock gab es Stehtische und schwimmende Forellen in den Aquarien. Ich hätte so gerne ein Aquarium gehabt. Natürlich nicht mit Forellen, sondern mit diesen kleinen Fischen in den Farben saftiger Orangen und...»

Er schweift ab. Und verliert sich in seinen Erinnerungen. Man muss ihn wie einen durchgestarteten Gaul an der Longe zurückführen: «Also - da waren die Cremeschnitte und zwei Gabeln und...» «PLÖTZLICH BEBTEN DIE SCHEIBEN. DER BODEN ZITTERTE. DIE LEUTE SCHRIEN: BOMBEN - SIE LASSEN BOMBEN FALLEN!» Später stellte sich heraus, dass das Kembser Kraftwerk das Ziel der Bomber war. «WIR JAGTEN ALLE HINAUS AUF DEN ANDREASKIRCHPLATZ. UND ICH HEULTE...»

«Habt ihr die Cremeschnitte noch bezahlen können?»

Jetzt schaut der Kriegsveteran wie eine Packung Sprengstoff: «Du bist und bleibst ein Rindvieh...» NÄCHTELANG HABE ICH VON DER LIEGEN GELASSENEN CREMESCHNITTE GETRÄUMT! ICH TRÄUME HEUTE NOCH DAVON...»

Innocent hat tatsächlich Tränen in den Augen: «UND WER SO ETWAS DURCHGEMACHT HAT, DER LÖFFELT DIE JOGHURTBECHER AUS - BIS ZUM LETZTEN MIKROMETER. KAPIERT?!»

«Ja», sage ich friedlich. Und lasse rasch das Rädchen Schinken unter den Tisch verschwinden. Es rollt sich bereits und wird schon seit acht Tagen immer wieder angeschleppt. Ich möchte nicht zusehen müssen, wie Innocent das vergammelte Stück runterwürgt, nur weil es ihn an eine Sau erinnert, die sein Vater im Aktivdienst vom Bauernhof auf dem Buckel heimgeschleppt hat...

Dienstag, 8. September 2020