Von Wanderern, Bikern und verschwundenen Idyllen

Illustration: Rebekka Heeb

«Schon wieder drei Nuggelflaschen in den Rosen!» Innocent tobt. Wenn er tobt, überfällt sein Gesicht eine gesunde, rote Farbe. Man könnte meinen, eine Stop-Ampel sei am Dampfen. Das mit den Nuggelflaschen bringt sein Adrenalin zum Tanzen. Rund ums Chalet und auch auf dem Land unseres Nachbarbauern Pieren hat er Plakate in die heutige Erde gerammt: «Hier ist keine Schutthalde».

Er hält in der Metzgerei beim Einkaufen von drei Rädli Schwartenmagen («bitte ganz dünn geschnitten!») und auch in der Stündeler-Stunde der Juventus Mariae Aufklärungsvorträge darüber, dass Plastik jedem Kuhmagen schade. Und dass es überdies eine weitaus falsche Annahme der heutigen Generation sei, dass die armen Viecher beim Schlucken einer dieser verdammten Nuggel-Guttern die Milch dann gleich in Halbliter-Flaschen rausscheissen würden: «Die Rinder verrecken kläglich daran - und ihr, die ihr immer von dieser Sauwelt labbert, die wir euch hinterlassen haben - was tut ihr? Ihr müllt sie mit eurem Picknick-Abfall zu.»

Wie gesagt: Seine Halsader ist dann dick wie eine Haarspraybombe. Und sein Puls hämmert wie ein Schlagbohrer. Ich jage jeweils mit dem Melissengeist der drei Klosterfrauen und einem Kilo Würfelzucker herbei. Er schmettert mir die braven Nonnen wild aus der Hand: «Ich will keine Beruhigungstropfen - vor allem will ich keine versenften Wurst resten in meinem Lavendel.» Sein Lavendel ist ihm alles. Er pflanzt die Provence am Fusse des Wildstrubels. Edelweiss sind ihm nicht blau genug. So viel zur Vergewaltigung der Umwelt.

Klar ist dieses Littering ein allgemeines Problem. Muss ich an das Rheinbord erinnern? MUSS ICH NICHT!

Während der Ferienzeit hat sich unser vom Lockdown so idyllisch still heruntergefahrener Bergort zur wilden Ramba-Zamba-Meile verwandelt: Die Schweizer sind daheimgeblieben. UND GEHEN HIER AUF DIE NATUR LOS!

Und wenn die helvetische Propaganda und Frau Sommaruga vom «wunderbaren Heidiland, das es in diesen Zeiten zu entdecken gäbe» sprechen - SO HABEN WIR NICHT GEWETTET. Das Chuonisbärgli ist überlaufen wie H&M beim Ausverkauf am Wühltisch.

Petrus feuert sie mit seinen Sonnenlaunen noch an: Jeden Tag jagen spindeldürre Männchen, deren Krampfadern dicker sind als ihr Hals, oder breitgerundete Sportweiber, deren Hinterteil über den Sattel lampt wie die Lefzen einer Bulldogge - jeden Tag also radelt der Horror dieser bewegten Welt mit Elektro-Bikes, Sporttrottinetts und Velos mit Pneus so dick wie Mortadellawürste über den Kuhschiss.

Sie klingeln genervt die Ziegen weg und brettern die Männertreu zu Brei. Ja, wundert es euch, wenn sich einer nach der idyllischen Ruhe auf der Autobahn sehnt? Na eben!

Natürlich ist es okay, dass wir Eidgenossen das Glück in der eigenen Heimat suchen. Aber müssen wir dazu Rucksäcke mitschleppen, die aussehen, als hätte da einer sein Einfamilienhaus auf dem Rücken aufgebaut? Aus Taschen baumeln Plastikflaschen. Denn jede Apothekerrundschau schreit uns zu: «Trinken, trinken, sonste werdet ihr umsinken.»

Und wenn dann einer doch die Schraube macht, klappt es mit der Rettungswache ganz hervorragend: Der schöne August-Himmel ist vollgestopft mit brummenden Helikoptern, welche die Halbleichen aufsammeln. Und sie zum Tropf transportieren. Na gut - vielleicht habe ich wieder einmal übertrieben. ABER DIE ANLEGE, ALSO DIE HAUT ALLES UM. Rotgekochtes Fleisch, das wie gekochte Hamme aus tarnfarbenen Kaki-Shorts hervorquillt. Militärmuster. ABER HALLO: Wollen wir nach Vietnam?

Die Deckelmütze ist von Coca-Cola. Und die Bluse mit den verschwitzten, dunklen Monden unter den Armen nicht von Dolce & Gabbana. Habt ihr gewusst, dass sich die getrennt haben? Gut. Gehört nicht hierher. Und ist ja auch ganz natürlich - jedenfalls natürlicher als diese lustigen Familienväter, die sich Drei-Monats-Sprösslinge an den Bauch hängen. Und die Babyköpfe an die milcharme, aber haarvolle Brust drücken. Ja sind wir im Zeitalter der Kängurus?

Schon als ästhetisch sensibilisiertes Kind wurde mir übel, wenn Vater die Knickerbocker samt den roten Wollsocken mit dem Zopfmuster von Tante Milli an sich geworfen hat. Aber immerhin war sein Rucksack aus Leder - und die Feldflasche mit dem Lindenblütentee aus Hartmetall. Die Flasche hatte gemütliche Beulen - und der Tee schmeckte wunderbar. Als Proviant gab es gekochte Eier mit einer eigens dafür konzipierten Emaille-Dose. Die Eier waren meistens zu lange im Sprudelwasser gelegen, sodass der Dotter grün war wie Nachbars Neid. Highlight: ein Tiki-Würfel, der auf der Zunge explodierte. Obwohl wir dann blutrot aus dem Mund schäumten, war herrliche Stille. Und nirgendwo ein SOS-Helikopter in Sicht.

Ich will nicht hadern. UND NATÜRLICH IST SPORT GESUND - ABER NICHT FÜR DENJENIGEN, DER ALL DEM HEUTIGEN WANDERERELEND FASSUNGSLOS HINTERHERPUTZEN MUSS.

Für die vielen laut trällernden Touristen gibt es zu wenig stille Örtchen. Wir haben eine Überanzahl an Klorollen, sind aber knapp an diesen mobilen Toilettenhäuschen. Da kannst du wirklich sagen: SO EIN SCHEISS! Zwar gibt es umweltbewusste Familien, welche dem Grossvater die tragbare Campingtoilette aufbuckeln. Aber das Gerät ist teuer und der Opa klapprig. Da kommt keine Wanderfreude auf.

Alle zehn Minuten steht jemand vor unserer Chalet-Tür, tanzt von einem Bergschuh auf den andern und hält die Hände vor die unschönen Shorts: «Guter Mann - es ist eine Notlage. Kann ich mal bei Ihnen?» Wieder bekommt Innocent eine dicke Halsschlagader: «Zupfen Sie mir zuerst die Plastikflaschen aus den Rosen!» DANN VERLANGT ER 5 FRANKEN FÜR 3 BLATT TOILETTENPAPIER.

Dienstag, 11. August 2020