«Deine Mutter ist rassistisch Weib!» - Linda tobte. Carlotta hatte es gewagt, meiner Haushälterin klarzumachen, dass es vielleicht nicht die richtige Art sei, abgefallene Zigarettenasche mit dem Absatz im Spannteppich zu entsorgen. «Sie ist eine Dreckschleuder, die nur rummeckert und alles an armes schwarzes Frau auslässt.»
Das war eine falsche Optik. Meiner Mutter waren Hautfarben genauso egal wie die sexuellen Ausrichtungen ihrer nahen Umgebung oder der Suezkanal.
Dies alles kümmerte sie einfach nicht. Wenn aber jemand ständig mit der Zigarette zwischen den Lippen rumfummelte und die Asche dann mit hochhackigen Pumps in einen eierschalenfarbenen Spann teppich einrieb, wurde sie laut. Das hätte ihr auch bei einem Eskimo oder einem Brienzer Bauern passieren können.
Okay. Meine Mutter mochte Linda nicht. Das hatte weniger mit der Hautfarbe der schönen Jamaikanerin zu tun als mit der Tatsache, dass sie meine Freundin und engste Vertraute war. Linda machte Carlotta den Mutterplatz streitig. Und nur deshalb war die gute Mamma stinkig.
KOMMT DAZU: LINDA PFUSCHTE MUTTER INS SPÄT-ERZIEHUNGSPROGRAMM.
Als ich nämlich der Familie mit kaum 18 Lenzen verkündete, es sei genug - «Ich will ausziehen. Und auf eigenen Beinen stehen» -, da heulte mein stahlharter Vater, ein wackerer Trämler-Macho und Weiberflachleger, am Tisch Rotz und Tränen: «Nicht weggehen, Bubi - die Welt ist schlecht. Schau deine Grossmutter an!»
Mutter aber setzte diesen eisigen Blick auf, mit dem sie es selbst in der Sahara schneien lassen konnte: «Na gut. Schau, wie du alleine zurechtkommst - aber erwarte keine Hilfe von mir. Selbstständig sein heisst auch: die Miete selber bezahlen, die Wohnung selber putzen und diese gottverdammt verschmierten Hemdenkragen, an denen dein Flüssig-Make-up klebt, selber zu bürsten!»
Ich ging trotzdem. Vater steckte mir wimmernd einen Fünfziger zu - die Kembserweg-Omi legte alle drei Tage Garten gemüse vor die Haustür, und ich genoss die grosse Freiheit.
Um mir den Hauszins für die viel zu teure Luxuswohnung leisten zu können, arbeitete ich in der alten Heuwaage-Milchbar am Tresen. Schrieb Kurzgeschichten für die «National-Zeitung». Und legte Wert darauf, dass mein Gönnerkreis gut bei Kasse war.
Nach zwei Monaten war die Wohnung nur noch Chaos. Und selbst die heissesten Verehrer wollten sich nicht mehr durch den Dschungel von Konservendosen, verkleckerten Tellern und Unterhosen wühlen. Also musste Abhilfe her. Und diese Abhilfe war Linda: klein, drahtig. Schwarzes gestrecktes Haar. Und schwarze Hautfarbe.
SIE WURDE DAS, WAS MAN HEUTE MEINE ZWEITMUTTER NENNEN WÜRDE. MEINE SCHWARZE MUTTER.
Und bei ihr habe ich gelernt, was Rassismus bedeuten kann. Und wie unüberlegt der Normalbürger manchmal diesen Menschen begegnet. Wenn beispielshalber einer meiner Gäste Linda die Hand schüttelte: «Hallo Frau Linda, wo kommen Sie her?» Da wurde der mit Gift und Galle über gossen: «Woher soll schon kommen - du Trottel - aus Bauch von meines Mutter.»
SIE BEKLAGTE SICH SPÄTER BEI MIR, NACHDEM SIE DIE GANZE EINLADUNG ZUR SAU GEMACHT HATTE: «DEINES FREUNDES ALLE RASSISTEN... IMMER FRAGEN DUNKELHÄUTIGES MENSCH, WOHER KOMMEN? IMMER DENKEN, WIR TANZEN NOCH IN BUSCH.»
«Sie haben Eliza auch gefragt!» «Ja. Sie aber ist weisses Käsiggesicht und kommen aus dieses Land, wo Känguru boxt. Und dieses Eliza reden schrecklich Deutschiges. Ich spreche Deutschig perfekt und auch den Dialektisch.»
Als ich im Sommer am Marché de Puces in Cannes einen Kerzenständer sah, der - wie der kleine Mohr im Foyer der Fürstin Werdenberg im «Rosenkavalier» - wunderbar gekleidet war, als ich das teure Stück - Limoges - also erstand und es in Basel stolz vor Linda auspackte, nahm sie den kleinen Porzellan-Mann in die Hand. Und schmetterte ihn auf den Steinboden.
Sie schaute mich kalt an: «Weshalb gibt nicht Kerzenständerig mit weisses Dienermann?» Mit der Zeit lernte ich, wo die zarten Saiten von Linda verborgen waren - und dass man sie nie zupfen durfte.
ICH LERNTE, IHRE WUT ZU AKZEPTIEREN. UND AUCH, DASS DIESE WUT GEGEN RASSISMUS NICHT VOR DER EIGENEN UNSENSIBILITÄT BEWAHRT.
Linda (brandmager) spottete über dicke Frauen («Ist fettes Schwein, hat nicht 100 Gramm grosses Klasse von Linda»), sie spottete über die Chinesen («ist Sprache wie ausgequetschtes Zitrone»), sie wetterte über die Ungläubigen (nie wäre sie ohne Bibel in den Supermarkt gegangen: «Ihr alles Gesindel und braten auf Höllig-Grill»). Sie zog auch unbarmherzig über Trinker und Kiffer her und hielt ihre vier Päckchen Marlboro am Tag aus dem Spiel: «Rauchig ist nicht schlimmig, macht nix. Nebelig im Kopf.» Stimmt.
Wir brauchten einfach jedes dritte Jahr einen neuen Spannteppich. Aber trotz aller unbedachten Giftspritzerei hätte sich Linda selber nie und nimmer als «unsensibel» oder gar rassistisch gesehen.
Drei Tage bevor meine Mutter in ihr langes Koma fiel und sich aus dieser bitteren Welt davonstahl, hatte sie Linda in meiner Küche besucht. Sie nahm ihre lange, goldene Karneolen-Kette vom Hals. Und streifte sie Linda über: «Du bist die bessere Mutter als ich , Linda - pass auf ihn auf!»
Als ich nach Hause kam, brannten überall Kerzen. Linda las in der Bibel. Sie schaute auf: «Deines Mutter ist grosses Rassist, aber wunderbares Frau, vergiss solchig nie, du fetter Schwuchtel!»
Rassismus hat viele Nuancen...