Vom Zeitungssterben und Journalisten von damals...

Illustration: Rebekka Heeb

«Die Zeitung wird immer dünner...», müffelt Innocent. Und wäffelt gleich nach: «Dieser Mist, den ich heute zum Lesen bekomme - ganz dünn!» Er ist einer derjenigen, der noch dem guten, alten Blätterwald nachtrauert - einem Wald, der noch keinen medialen Borkenkäfer und auch keinen Virussturm kannte. Der dichte Zeitungswald breitete sich in Innocents Jugendjahren links wie rechts aus. Doch schon zu jener Zeit stieg das Interesse vorwiegend in jene Sphären, die den Normal- Menschen ganz speziell bewegten: «WAS STECKT UNTER DEM FEIGENBLATT?!»

Natürlich hätte man so etwas nie zugegeben und tarnte diese Neugier feige zwischen den Blättern des anderen «Niveau»: Man engte den begehrlichen «Blick» zwischen den lang atmigen Bleiwüsten einer NZZ und der grell orange farbenen (und doch nicht ganz roten!) Aufmachung eines «Spiegels» ein. Der «Spiegel» war damals das Louis-Vuitton-Täschchen der Intellektuellen. Oder derjenigen, die sich für solche hielten.

Die Frage, ob Mäni Weber in Heidi Abel verliebt und der Busen von Bond-Girl Ursula Andress ein Fake ist, bewegte die Menschen schon damals mehr als das Gezänk unter Politikern und deren ewige Gier nach einem kurzen Moment der Macht. Mit Schlagzeilen wie «Kippt Königin Mutter heimlich Gin?» konnte man die Auflage bis zu den Sternen hinaufjagen.

Als ich vor über einem halben Jahrhundert bei der Redaktion der damaligen «National- Zeitung» angestellt wurde, rauschte der Basler Blätterwald noch ganz ordentlich. Es gab die von der SP gesteuerte «Arbeiter-Zeitung», den «Glockenstuhl» (so nannte man das katholische «Volksblatt» der CVP), den kommunistischen «Vorwärts» und die «Basler Nachrichten» für die «Dalbe». Es gab überdies einen «Brückenbauer» (er stand der damaligen Landesring-Partei nahe), den «Baslerstab» (mit der grössten Auflage in der Basler Region) - man druckte auch einen «Doppelstab», für kurze Zeit einen «Basler Blick» und dazu noch alle «Quartier-Blättli», die schon damals DER Renner waren: Die Leute wollten nämlich nicht wissen, weshalb Chruschtschow auf dem UNO-Pult den Schuh ausklopfte, sondern sie waren heiss darauf zu erfahren, welche Quartierbeiz neu auf gehen würde und weshalb der Schuhmacher an der Ecke schliessen musste.

Als ich kürzlich bei meinen Kollegen stänkerte, weshalb mein «Mimpfeli» nicht online geschaltet sei, tobten die: «JA WEISST DU EIGENTLICH, WIE WIR KRAMPFEN. UND WIE VIELE LEUTE WIR NOCH SIND?»

Ja. Das weiss ich. Aber wir waren vor 50 Jahren weniger Leute und haben zwei Zeitungen pro Tag gemacht: Morgenblatt. Abendblatt. Es gab keine Freizeit. Keine Familie. Keine Hobbys. Die Zeitung war 24 Stunden lang unser Leben. Und das Leben der Redaktion. Hätten wir Forderungen gestellt wie «Kann ich morgen vier Stunden fehlen, meine Frau muss ins Yoga. Jemand sollte die Kleinen hüten», so hätte es geheissen: DU BIST IM FALSCHEN BERUF! UND DU HAST DEN FALSCHEN BEZIEHUNGSSTAND!» Nicht umsonst wurden in den 70er- und 80er-Jahren gefühlte 90 Prozent der Journalistenehen geschieden. JAMMERTAL!

Die «National-Zeitung» von damals beschäftigte keine Frauen auf der Redaktion. Sie waren als tippende Sekretärinnen und Kaffeeköchinnen geduldet. Mit einer Ausnahme: die Moderedaktion. Da jeder Mann, der sich mit Mode beschäftigte, sofort in die Schwulen-Schublade abgelegt wurde, übergab man die kleine Sparte der Berichterstattung gnädig einer Sekretärin. Die besuchte dann die damals noch zahlreichen Modeschauen der Modehäuser und Couturiers.

Man erkannte die Berichterstatterin daran, dass sie mit Abstand am schlechtesten gekleidet und meistens mies drauf war. Unsere hiess Barbara. Und wenn es zu viele Modeschauen an einem Wochenende wurden, schickte sie Françoise, die über die Pelz-Paraden berichtete. Françoise war das Pseudonym von Franz Weber. Später hat ER den Blätterwald mit seinen Tierschutzideen und der berühmten Stiftung dann andersrum zum Rauschen gebracht.

Starjournalist der «National-Zeitung» war vor 50 Jahren Hanns U. Christen. Keiner wusste, was das zweite «n» bei Hans bedeuten sollte. Aber die Abkürzung «-sten» war ein Begriff. Und sein Marktbericht, in dem er jeden Samstag faszinierende Reportagen über abgelegene Orte in Europa schrieb, galt in der ganzen Schweiz als Highlight. Am Schluss seiner Reportage kam er immer auf den Basler Markt zurück. Und gab von dort die aktuellen Preise vom angebotenen Spargel, von Kopfsalat und Geranienstöckchen durch.

Es gab damals noch kein Internet, in dem Journalisten rasch die Infos googeln konnten. -sten reiste in einem umgebauten, uralten VW-Bus durch die Welt. Und holte sich die Infos an Ort und Stelle live bei den Menschen - ob in Afrika, Paris oder in den Pyrenäen. ES WAREN DIE MEISTGELESENEN ZEITUNGSARTIKEL JENER ZEIT.

Die «Basler Nachrichten» hatten G.A.W. als ihren Star. Die drei Buchstaben garantierten einen stimmungsvollen Nekrolog - oder auch eine fundierte Geschichte über alte Basler Familien. Gustaf Adolf Wanner war der «Monsieur» der Schreiberei. - «sten» war das Raubein.

Ich erinnere mich auch an Hannes Schäublin. Er war ein perfekter Schreiber - UND EIN GROSSER SCHLUCKSPECHT. Manchmal setzte er sich nach einer Parteiversammlung und anschliessend langem Besuch in der Rio-Bar in einen Zug. Und pennte den Rausch in einem Waggon aus. In Mailand oder Paris schüttelten ihn die Schaffner wach. Und er fuhr wieder zurück. Aber nie hätte er einen Bericht nicht rechtzeitig abgegeben - er war trotz seiner Abstürze die Zuverlässigkeit in Person. Und auch von wunderbarer Weisheit: «Was wir heute schreiben, ist morgen vergessen. Wenn du aber mit deinem Schreiben die Menschen berührst, wird es immer in ihnen weiterleben.»

Hannes Schäublin wäre in ein paar Tagen 100 Jahre alt geworden. G.A.W. starb vor 36 Jahren, Hanns U. Christen 2003.

DIE ZEITUNGEN STARBEN MIT IHNEN.

Dienstag, 26. Mai 2020