Vom Alltag auf Distanz und einem Kälbchen...

Illustration: Rebekka Heeb

Seit sieben Wochen «the same procedure as every day»: Ich klopfe an die Tür der Parterre-Wohnung unserer Adelbodner Hütte: «Ist die Café-Bar schon offen?»

In der Küche explodiert die Kapsel von Herrn Glooney. Und Innocent flötet: «Ach, der liebe Herr vom oberen Stock... wunderbar. Der Espresso kommt gleich. Suchen Sie sich im Gartenrestaurant ein Plätzchen aus...» Es gibt nur e i n e n Tisch mit z w e i Gedecken - und die liegen vier Meter auseinander. (Wenn Sie mich fragen, ist das immer noch zu wenig, um die heimische Krise friedlich zu meistern.)

Abends dann das Zurück-Spiel: Es klopft an meiner Haustür. Ich öffne und gehe sechs Schritte zurück: «Ach, Herr Doktor von unten - so eine Freude! Derselbe Tisch wie immer...?»

Der Herr Doktor: «DER TISCH IST MIR WURSCHT. DER WEIN MUSS STIMMEN...»

So kommen wir über die Runden. Werden rund dabei. - Und leben noch.

Man schickt uns Alten den Tod an die Gurgel - zumindest, wenn wir die Gruft lebendig verlassen sollten.

Mittlerweile wissen tausend Studien, dass mehr Todesfälle durch gezielte Hammerschläge auf den Hinterkopf oder Strangulierungen mit einem Mixerkabel zu verzeichnen sind als Corona-Verblichene.

ICH WILL NICHT KLAGEN -WIR HABEN ES JA SCHÖN.

Seit unser Nachbar-Bauer Samuel die Kühe auf die Weide und direkt an unser Frühstückstisch-Ei lässt, haben wir wieder ein Gesprächsthema.

Es gibt nichts Anheimelnderes als eine Kuh, die sich das stark gesalzene Eigelb aus unserem Teller reinschlürft.

Als ausser uns und tausend Corona-Experten im Morgen-Fernsehen noch nichts anderes los war, uferte die Stimmung bald schon ins Gereizte aus.

ES STIEGEN NICHT NUR DIE ZAHLEN DER INFEKTIONEN - DA STIEG AUCH DIE TEMPERATUR, WENN MEIN FRÜHSTÜCKSKELLNER UNRASIERT DEN HONIG ANSCHLEPPTE.

«Du solltest auch in d i e s e n Zeiten mehr auf dich geben!» «Es ist ja NIEMAND da!» - «BIN ICH N I E M A N D?» - «Ich meine: niemand W i c h t i g e r...»

Muss ich andere Szenen hervorholen? Nein? Sie kennen alle? Gut, dann nur noch diese: Innocent bringt die Butter mit einem säuerlichen Blick zur Lohner-Nordwand: «Da hat wieder jemand die Butter verkehrtherum angeschnitten...»

JEMAND? Wir sind aus Seuchengründen ein 2-Personen-Haushalt. Also was soll diese Scheisse mit «JEMAND»?

KANN ER NICHT DIREKT SAGEN: «DU MISTSCHLEUDER - HÖR ENDLICH AUF, DIE BUTTER FALSCHRUM ANZUSCHNEIDEN!»

Nein. Das kann er nicht.

Wenn er es nämlich gekonnt hätte, wäre mein Gegenschlag hammerfest zurückgekommen: «Weil JEMAND die Anschnitt-Stelle mit Senf verschmiert hat! Also habe ich längsweg geschnitten. DENN DER ANDERE HERR JEMAND WILL KEINE SENFIGE BUTTER, GOPF!»

Es sind solche lustigen Geplänkel, die uns den Tag würzen.

Hütchen-Spiel, Eile-mit-Weile und «Tschau Sepp» haben wir schon lange nicht mehr im Programm. Alles lahmgereizt. Drei Spielbretter sind auf meinem Schädel zerschellt.

(Innocent kann nicht verlieren - wenn man ihn mit einem verträumten Lächeln bei Eile-mit-Weile überholt, beginnt er zu schäumen. Jetzt heisst es «eile!, eile» - sonst schmettert er dir auch noch das vierte Brett über den Grind.)

Bei «Tschau Sepp» habe allerdings i c h die Nerven verloren und die Karten in die Weide geschmissen. Jetzt spielen die Zicklein damit. DAS NIVEAU IST ALSO GESUNKEN - UND ZWAR SO WEIT, DASS INNOCENT BEREITS IM MORGENMANTEL SEINER LIEBEN «MUMMI» UND OHNE LACKIERTE ZEHENNÄGEL HERUMSCHLURBT.

Überdies sind seine Zähne... ABER DAS WOLLT IHR GAR NICHT WISSEN!

Und jetzt also rettet Samuel unsere Stimmung, indem er Kuh und Kalb hüpfen lässt.

Es gibt echt kaum etwas Herzerfrischenderes, als einer Kuh zuzuschauen, die aus dem Stall auf die Weide galoppiert. Sie hüpft dann herum wie ein zentnerschwerer Tennisball. Und ihre Augen... DIE AUGEN! ...habt ihr je schönere Augen als diejenigen einer Kuh gesehen?

DIESE WIMPERN... DIESE PUPILLEN... DIESES STRAHLEN... Nicht umsonst hat Homer die Schönheit einer Frau mit derjenigen der Kuh verglichen: «Pallas Athene, die Kuhäugige...»

(Das habe ich hier nur angebracht, um zu beweisen, dass die humanistische Bildung bei m i r noch nicht im Morgenrock herumschlurbt...)

NUR ALLZU GERNE ERINNERE ICH MICH AN MEINE LIEBE MUTTER CARLOTTA, DIE EINES TAGES EIN LUSTIGES KALB VOR DER WENIGER LUSTIGEN SCHLACHTBANK RETTETE.

Sie kaufte es. Und es blieb eine innige Liebe zwischen der jungen Kuh und ihrer Retterin, bis zu beider Ende.

ALS ICH NUN DAS KLEINE KÄLBCHEN SO FRÖHLICH HERUMJAUCHZEN SAH, KAM MIR DIESE GESCHICHTE WIEDER IN DEN SINN.

Ich winkte Samuel auf Abstand zu mir: «Wird das Kalb geschlachtet...?» -«Ämmu scho.» - «WANN!?» «Ehdebaudemou.» (IN DER SPRACHE DER MENSCHEN: KLAR - BALD EINMAL.) «Was kostet es...?»

NA GUT - ES IST KEIN SCHNÄPPCHEN. (UND ICH WEISS NOCH NICHT, WIE ICH ES INNOCENT BEIBRINGEN SOLL.)

Aber eine hüpfende Kuh bringt doch wieder ein bisschen fröhliches Leben in den stumpfsinnigen Alltag der Gruft-Menschen...

Dienstag, 5. Mai 2020