Als schöner Bub wurde ich oft geküsst. DAS WAREN ALLES NUR WEIBERKÜSSE! Männer hielten sich zurück. GOTT SEIS GEKLAGT! Die Herren küssten damals eh nicht coram publico. Nur im Film. Oder hinter verschlossenen Schlafzimmertüren. Da meine Mutter jede Form von Zärtlichkeit mit Ausreden wie «Hans - ich habe heute Migräne!». Oder «Hör bitte auf mit dem Mist - apropos: Könntest du mal den Mistkübel runterbringen!» -, da die gute Mamma also alles Heisse aus dem kühlen Schlafzimmer aussperrte, waren Vaters Küsse für die Katz. Die Katzen hiessen dann Trudy, Hanni, Berta - sie waren meistens etwas üppig in den Hüften. Und leichtem Damenbart. Vater war ganz heiss auf einen flaumigen Damenbart, da in unserer Familie die Damen ihre Haare nur auf den Zähnen trugen.
Natürlich küsste Vater seine Miezen nicht in Mutters Schlafzimmer. JA, WAS DENKT IHR EUCH DA AUS! Nein - alle diese Frauen hatten Ehemänner, die sich auf den Bürosesseln für die neue Handtasche ihrer Frauen den Hintern breit drückten. Mein Vater aber hatte das Sechsertram. Und somit unregelmässigen Bimmel-Dienst - mit B bitte. In den Pausen stellte der streunende Kater den Schwanz und tigerte zu seinen Katzen. Hätte es damals schon «Tatort» gegeben, wäre er sicher nach zwei Minuten die Leiche gewesen: ein aus Eifersucht ermordeter Schellentramper und die kleine «Alberich» in der Leichenhalle mit vielsagendem Blick über das nackte Elend: «Cherchez la femme!»
Der arme Bub verzehrte sich also nach Männerküssen. So etwas war in den frühen 50ern aber rar wie jetzt Klopapier. Erst später haben Breschnew und Honecker im heissen Bruderkuss dieses Tabu gebrochen. Doch dieses schlabbrige Foto machte selbst die ausgehungertste Schwuchtel asexuell. Zurück zur Familie. Die meisten unserer Frauen waren Witwen. Ich habe in meiner Kindheit nur Tanten in schwarzen Strümpfen und herunter gezogenen Trauerschleiern gesehen. Auch die Kembserweg-Omi trug bis zum letzten Atemzug die Farbe des Leids. Und dies, obwohl sich ihr Jules schon vor 45 Jahren ins Jenseits gesoffen hatte. Natürlich waren die ausgehungerten Witwen in ihrer Gier heiss wie das Höllenloch. Ich war im Elend nun ihre kleine Ersatzdroge mit Kniesocken und einem Käppi, unter dessen Rand zwei Ohren wie aufgeblähte Segel abstanden.
Sie drückten mich an ihre üppigen Busen. Mit flinken, spitzen Fingern hoben sie die Fallgitter, diese fein gesponnenen, teerschwarzen Netzwerke, die sie beim Gang aufs Grab unters Kinn gezogen hatten, wieder hoch - schon spitzten sich dem schreienden Buben grellrote Lippen entgegen. Das Kind schrie Zetermordio und versuchte unter den Frauenarmen hindurchzuschlüpfen. Umsonst! Mit eisernen Griffen packten sie den lieblichen Buben - wie das hungrige Krokodil die durstige Gazelle.
Dann schlabberten sie das Kind ab, wie den Eislutscher im August. KAPIERT IHR JETZT DAS TRAUMA DES KNABEN, WENN SICH EINE FRAU IHM NÄHERT?! SCHNALLT IHR SEIN ELEND? Man schützt die Chorknaben vor den Kardinälen - aber nicht die Buben mit Abstehohren vor ihren Tanten! Der Psychiater, der mich von der Rekrutenschule befreien sollte, hatte es allerdings sofort drauf: «WEIBER-ALLERGIE!» nannte er das Ganze. Dank seiner Weisheit wurde ich später vom Gewehrschuss dispensiert.
Zurück zu den Tanten: Sie beschmusten also den Jungen. Die Männer sahen lächelnd darüber hinweg. Alle fanden so viel Frauenliebe ganz normal. Nur meine Mutter griff hin und wieder ein: «Gertrude jetzt lass an dem Kleinen noch eine kleine Stelle unbefleckt!» Dann befahl sie mir, auf ihr fein umhäkeltes Linnen- Taschentuch zu spucken. Und rieb mir sämtliche Lippen stiftspuren aus dem Gesicht. Gott wie ich diese Spucken-Rubblerei hasste!
Als ich mit 14 endlich erhört wurde, war es Cousine Huguette, die mein heisses Sehnen ausnutzte. Die Schlampe schlich mit mir auf den Estrich und ging an meine Wäsche. UND WIR REDEN HIER NICHT VON DEN LEINTÜCHERN AM SEIL... Wie der Alkoholiker nach einer Flasche Hennessy gierte ich weiter nach Männerküssen. Mein Vater leckte mir hin und wieder vor dem Beben die Nase. ABER DAS WAR JETZT WIRKLICH NICHT D A S, WAS MICH ZUM BEBEN BRINGEN KONNTE. In Träumen zog mich Clark Gable an sich - aber alles: vom Winde verweht. In Wirklichkeit war es Vivien Leigh, und später musste ich tatsächlich in ihren Memoiren lesen, dass Clark ganz arg an Mundgeruch gelitten habe. Du kannst im Leben nicht alles haben.
Und nun das: Ich hocke in den Bergen. Jeder hat die Maske auf. Sehen die Menschen meine Runzeln sowie die flatternden Tränensäcke, taxieren sie eiskalt: 70 PLUS! Sie meiden mich wie der Teufel das Weihwasserbecken. Corona hat mir die schreckliche Einsamkeit zurückgebracht, mit der ich mich schon als Bub schwergetan habe. Ich brauche Umarmungen. Nähe. Küsse. UND HOLS DER TEUFEL - ES IST MIR TOTAL EGAL, OB ES BEI DIESEM PROZESS DANN GRELLMUNDIGE WEIBER ODER NASEN-BEISSENDE MÄNNER SIND. Ich will einfach wieder mal schamlos durchgeküsst werden - ohne dass gleich jeder die Maske übers Gesicht zieht wie Tante Gertrude den Trauerschleier am Grab.