Von einem Wolf auf Besuch und dem tropfenden Wasserhahn...

Illustration: Rebekka Heeb

Der Insel-Winter ist speziell. Wunderbares Wetter, stahlblaues Meer - aber ein Wind, der dir den Hintern schwarzfriert und Innocent die Nase tropfen lässt.

LEIDER IST ES NICHT DAS EINZIGE, WAS TROPFT.

Die Toilettenspülung rinnt. Und auch der Wasserhahn hat den Dauerheuler. ES IST EIN BISSCHEN WIE CAMPING IN DER ARKTIS.

Selbst die Wölfe sind da.

Zumindest einer. Eines Tages wartete er regungslos beim Tor.

Ich: «Psssst - dort steht ein Wolf!»

«WAS ISSS LOOOS!»

Innocent redete mir der Lautstärke eines Silvesteranimators. Da war das Tier natürlich sofort weg.

«Da stand ein Wolf! Er hat mich angestarrt.»

Innocent: «Ja - DU BIST DIE GROSSMUTTER. Und ich das Rotkäppchen. Träum weiter...»

Manchmal kann mein Freund etwas ätzend sein. Der weise, alte Mann belehrt mich, dass wilde Wölfe nur bei den Gebrüdern Grimm mit Menschen kommunizieren würden: «Sie suchen sich Schafe - keine Wildschweine. Und schon gar keine alten Hammel!»

Ich schweige gekränkt. Und lege im Versteckten dem armen Graupelz ein vergammeltes Kotelett hin. Dazu ein Stück vertrockneter Panettone - Letzteren statt Rotkäppchens Geburtstagskuchen.

IN DER NACHT TAUCHT ER WIEDER AUF.

Ich lese eben zum zwanzigsten Mal die Stelle, wo der talentierte Tom Ripley seinem Freund die Birne flachschlägt. Da spüre ich, dass zwei Augen mich fixieren.

Mein Garagenhäuschen liegt weit weg vom Schuss. Ich liebe hier die Einsamkeit.

JETZT WÄRE MIR MENSCHLICHE NÄHE LIEBER. DENN SOLLTE EIN MÖRDER DAS MESSER ZÜCKEN, HÖRTE WOHL KEINE SAU MEINE GELLENDEN SCHREIE.

Ich gehe unter die Decke und vernehme tapsige Schritte. Die feurigen Augen sind weg - dafür liegt ein abgenagtes Kotelett vor der Tür.

Der Kerl wollte mir nichts tun - nur Danke sagen.

Beim Frühstück - wir hocken mit klammen Fingern an den Teetassen in Decken gehüllt auf der Veranda - beim Tee schlürfen also kann ich mir den Triumph nicht verkneifen: «Er war wieder da. Er hat mich beobachtet. Dann haute er ab.»

«Seltsam. Ein hungriger Wolf - und verzieht sich bei solch üppigen Fleischbergen...!?»

Innocent startet das neue Jahr, wie er das alte beendet hat: verbal fies und mies.

«ER HAT MEIN KOTELETT GEFRESSEN. UND DEN KNOCHEN DAGELASSEN...!»

«Natürlich - und dann hat er sich Omas Panettone zum Kaffee reingezwitschert Himmel, bist du eine naive Süsssülze!»

Als ich Gianni die Geschichte erzählte, wurde der bleich: «Il lupo? Dove?»

Immerhin - er war ein dankbarer Zuhörer. Unser Gärtner bebte. Und sperrte die Augen gross auf. Nur will das nichts heissen - Gianni macht sich schon vor dem kaum fingergrossen Chihuahua der Liesel in die Hose.

Dann legte er los: Ein ganzes Rudel von Wölfen würden im Pinienwald ihr Unwesen treiben. Der alte Umberto habe mit eigenen Augen gesehen, wie eines der Tiere mit einer jaulenden Katze im Maul am Hafen vorbeigaloppiert sei...

Innocent würgte solche herrlichen Schilderungen eiskalt ab: «DAS EINZIGE, WAS BEI UMBERTO GALOPPIERT, IST DIE FANTASIE! NACH SIEBEN GRAPPA SIEHT DER DOCH SCHON SEINE EIGENE GROSSMUTTER ALS SCHNEEWITTCHEN...»

Nächtelang lag ich jetzt auf der Lauer.

Patricia Highsmiths Mörder Tom in der linken Hand - rechts: das Handy, auf Kamera gestellt...

Als ich entdecken musste, dass der Wolf den Grossmutter-Panettone einfach links liegen gelassen hatte, fokussierte ich mich auf Kaninchenfleisch. Und davon die Stotzen.

In der dritten Nacht war er wieder da. Zuerst hörte man ein Knacken. (Das waren wohl die Kaninchenläufe.) Dann knurrte das Tier verärgert. (Vermutlich waren zwei Stotzen zu wenig.) Und als meine dicken Finger endlich das Natel in Position hatten, war der Wolf auch schon weg.

Aber immerhin: EIN MAL HATTE ICH IHN AUF DEM BILD! Zumindest die buschige Rückseite, die mich an eine Pelzmütze erinnerte, die mir ein Oberstleutnant in Sibirien vor zigtausend Jahren aufgestülpt hatte. Das mit der Pelzmütze war noch in der Zeit, als selbst Nikita Chruschtschow bei Bruderküssen bodenlange Zobel trug und die sowjetischen Militärs für westliche Zuneigung gerne das Fell abzogen...

Am andern Morgen legte ich das Beweisfoto neben Innocents Cappuccino. Der fackelte nicht lange. Er rief Augusto, unsern Nachbarn, an: «Hol die Flinte - wir haben einen Wolf auf dem Gelände!»

«WÖLFE SIND GESCHÜTZT», protestierte ich laut.

«ROTKÄPPCHEN AUCH...» konterte Innocent eisig. «Denkst du, ich finanziere hier Hunderte von Kaninchenschlegel, nur damit dir einer in die Augen schaut...!»

Augusto erschien mit der Flinte am Rücken. Er beäugte das Handybild. Dann seufzte er. «Ich dachte schon, da geht endlich mal was ab - nicht immer nur diese langweiligen Wildschweine! ABER DAS IST LEOPOLDO!»

Leopoldo?

«Ja - der Australische Schäferhund von Roberto. Immer wenn Leopoldo spitz ist, büxt er aus...»

Ich liege noch immer mit dem Mörder Tom Ripley im Bett.

Keine glühenden Augen beobachten mich.

Leopold ist abgekühlt.

Das Kaninchenbudget gestrichen.

Und der Wasserhahn tropft immer noch.

Dienstag, 14. Januar 2020