Das verbotene Türchen - eine Weihnachtsgeschichte

Illustration: Rebekka Heeb

Lucie träumte vor sich hin. Die Gedanken des kleinen Mädchens kreisten um das verbotene Türchen. Immer wieder strich das Kind mit seinen weissen Händen über den Adventskalender.

Manchmal rieselten ein paar Glimmerflocken aufs Kissen. Für Lucie waren es Diamanten, die Weihnachtsengel auf ihr Bett fallen liessen.

Monika legte die Hand auf den Kopf ihrer Tochter: «Du hast Fieber, Kleines. Und ich glaube, du solltest diesen Glimmerkalender nicht immer in die Finger nehmen. Glimmer ist gefährlich.»

Monika ging ans Fenster. Und schüttelte das glitzernde Kissen aus. Das Kind seufzte tief: «Was, denkst du, wird hinter dem grossen Tor sein?»

Die Mutter schwieg. Sie zuckte mit den Schultern. Schliesslich streichelte sie der Kleinen über den heissen Kopf: «Das ist ein Geheimnis. Und das Geheimnis muss ein Geheimnis bleiben bis zum grossen Tag. Sonst löst sich der ganze Zauber in Luft auf...»

«Ich weiss», nickte Lucie nun altklug. «Es ist wie im Märchen, wo der ganze Schatz verschwand, nur weil die neugierige Magd ihre Augen nicht ganz geschlossen hielt und spähen wollte, wer ihr die Goldtaler in den Schoss legt. Oder wie bei Orpheus...»

Monika musste nun doch lachen: «Wer hat dir denn die Geschichte von Orpheus erzählt?»

«Das war Maurice», Lucie strahlte jetzt: «Maurice weiss alles: Orpheus konnte wunderbar singen. Seine Frau wurde von einer Schlange gebissen - und musste als Tote in die Unterwelt und weil der Gott in der Unterwelt von der grossartigen Stimme des Sängers so beeindruckt war, erlaubte er ihm, Eurydike wieder ins Leben zurück zubringen...»

«Aha», sagte Monika. «Eben nichts mit aha», meinte das Kind altklug. «Orpheus musste nämlich vorangehen. Und durfte sich niemals umdrehen. Hat er dann aber doch, als er plötzlich keine Schritte mehr hinter sich hörte UND WEG WAR SIE. NUR NOCH LUFT!»

Das Kind schüttelte missbilligend den Kopf: «So ein Blödmann! Maurice hat gesagt, dass es mit dem 24.-Advent-Türchen ganz ähnlich sei. Wenn man zu neugierig ist und es vor dem grossen Tag öffnet, wird sich hinter dem grossen Tor alles in Luft auflösen...»

Monika drückte ihrer Tochter nun einen Kuss auf die Stirn: «Manchmal ist es eben klüger, nicht alle Geheimnisse zu erforschen, mein Schatz - versuche jetzt ein bisschen zu schlafen!» Sie nahm dem Mädchen den Adventskalender aus der Hand.

«Heute war eine Puppe hinter Nummer 14 - eine, wie ich sie mir immer gewünscht habe. Mit rosa Kleid. Und einem Barbie-Krönchen » Die Mutter wandte sich ab. Sie weinte. Als sie sich wieder gefasst hatte, nahm sie die Kleine in die Arme: «Wer weiss - vielleicht bringt das Christkind dir dieses Jahr eine Puppe!» Lucie sperrte die dunklen Augen weit auf: «Aber d u glaubst doch gar nicht ans Christkind, Ma wie soll es da je eine Puppe in unser Haus bringen?»

Am frühen Abend rief Monika Maurice auf dem Natel an: «Ich bin beunruhigt. Lucie hat ziemlich hohes Fieber.»

Maurice war der Vater von Lucie. Allerdings rein physisch. Monika hatte ihrem Freund gleich zu Beginn ihrer Beziehung klargemacht: «Ich mag dich. Aber ich will keine feste Beziehung. Vor allem will ich keinen Mann neben mir - ein Kind: ja. Aber einen Ehemann: nein, danke!»

Monika hatte Betriebswirtschaft studiert. Sie war in ihrem Beruf nie glücklich gewesen - also hatte sie sich in einer Heilpraktikerschule zur Psychotherapeutin ausbilden lassen. Nun therapierte sie Problemkinder, Ehepaare, die sich nichts mehr zu sagen hatten, Frauen, denen das Dach auf den Kopf fiel...

Ihre Praxis hatte grossen Zulauf - daneben lebte Monika ganz für ihre kleine Tochter. War der Stundenplan zu üppig vollgepfropft, schaute die Mutter von Maurice zur Kleinen.

Maurice selber hatte sein Psychologiestudium geschmissen. Er war der Easy-going-Typ. Meistens jobbte er als Taxichauffeur. Und im Sommer als Badewärter im Gartenbad. Hin und wieder zoffte sich die Therapeutin mit dem Vater ihres Kindes. Meistens ging es um Erziehungsfragen - wie vor einem Jahr mit dem Adventskalender.

Lucie war von der Primarschule heimgekommen: «Ich will denselben Glimmerkalender haben, wie Maja 24 Törchen. Hinter jedem steckt ein wunderschönes Überraschungsbild...»

Die Mutter wehrte entschieden ab. «Kommt nicht infrage. Glimmer ist schädlich. Überdies sind diese Kalender mit den Engelchen ein grauenvoller Kitsch, eine verlogene Märchenwelt...»

«Lass sie doch!», hatte Maurice abgewehrt, «Kinder haben ein Recht auf Kitsch und Märchen.»

«Blödsinn», hatte Monika gefaucht. «Gestern wollte sie vom Chistkind unbedingt eine Barbie-Puppe, so einen Gräuel mit Diamantenkrönchen und drei verschiedenen Abendroben hinter dem Plastikpack. Ich habe ihr erklärt, dass es erstens kein Gaben verstreuendes Christkind gibt. Das dies alles nur eine Idee der Geschäftsleute sei. Und so eine geschmacklose Barbie-Puppe komme mir schon gar nicht ins Haus das widerspricht jedem vernünftigen Frauentyp von heute...»

«MEIN GOTT - BIST DU EINE KRATZRAFFEL! LASS DOCH DEM KIND DIE FREUDE...», hatte Maurice getobt.Monika führte ihn eisig zur Wohnungstür: «Halte dich da bitte raus - es ist m e i n e Tochter. Auf Wiedersehen!»

Sie hatte dann ihrem Töchterchen einen Adventskalender mit 24 Jutesäckchen gebastelt - in jedem steckte eine kleine Überraschung: ein Wollschaf , eine geschnitzte Eule, und am 24. eine Puppe, die Monika eigenhändig aus Restwolle gestrickt hatte.

ES WAR NICHT DIE PUPPEN-ÜBERRASCHUNG, DIE LUCIE UMHAUTE!

Im Sommer hatte Lucie dann erstmals über Kopfschmerzen geklagt. Monika rieb der Kleinen Pfefferminzöl ein. Lucie wurde danach immer stiller. Sie spielte kaum mehr mit ihrer Freundin Maja. Das Kind war stets müde. Fieberte. Und verlor an Gewicht.

Im Kinderspital entdeckte man den Tumor. Maurice und Monika besuchten ihr Kind jetzt immer gemeinsam im Spital. Doktor Furler, der Chefarzt, orientierte sie stets über den neusten Stand. Manchmal durfte Lucie für einige Tage heim. Monika war dann nur noch für ihre Tochter da. Maurice stand ihr zur Seite.

«Ist doch dumm, dass Maurice abends wieder zu sich in die Wohnung geht - kann er nicht hier wohnen?!» So zog Maurice zu Monika. Und ihr war es recht. Sie spürte, dass sie ihn nun brauchte.

Kurz vor Advent kam ein akuter Anfall. Ein Krankenwagen brachte Lucie mit Blaulicht ins Spital. Am 1. Dezembertag legte Chefarzt Forler der Kleinen einen Glimmerkalender aufs Bett: «Aber nur e i n Türchen pro Tag!» Lucie strahlte: «So einen habe ich mir immer gewünscht - mit vielen Engeln... und einem Weihnachtsbaum... wir haben nie einen Weihnachtsbaum...»

Dann wurde das Mädchen leiser: «Meine Mutter glaubt nicht an das Christkind... und auch nicht daran, dass es Wunder vollbringen kann... aber ich habe das Christkind bei Maja gesehen. Sie hatte letztes Jahr fast denselben Adventskalender. Hinter dem grossen Tor lag das kleine Kind in der Krippe ein helles Licht strahlte vom Himmel. Und eine Leiter führte in die Ewigkeit. Darauf standen Engel und musizierten - es war ein wunderbares Bild. Irgendwie war alles gut...»

Die Finger strichen über das grosse Tor: «Doktor Furler - denken Sie, dass es eine Leiter in die Ewigkeit gibt und dieses wunderbare, warme Licht...» Der Arzt nahm die Hand des Kindes: «Man muss an die Wunder glauben, Lucie... sie helfen uns über alles hinweg... besonders an Weihnachten...»

Als Monika den Adventskalender sah, wollte sie etwas sagen. Maurice schüttelte fast unmerklich den Kopf. Schliesslich lächelte die Mutter: «Ein sehr schöner Kalender, Lucie...» «Von Doktor Furler», nickte das Kind, «aber man darf das grosse Tor nicht vor dem Heiligen Abend öffnen... sonst erlischt das helle Licht.»

Maurice und Monika waren sich einig: Während der Adventszeit kommt die Kleine nach Hause. Doktor Furler gab sein Placet. Drei Tage vor dem Weihnachtstag schleppte Maurice eine riesige Tanne an. Er hatte sie auf dem Taxidach festgebunden gehabt. Der Baum nahm die halbe Stube ein: «Das wird ein gigantischer Baum für Lucie», lächelte er etwas unsicher zu Monika.

Sie lächelte zurück: «Ist schon okay. Aber wir haben keine Kugeln...» Er nahm sie jetzt in die Arme: «Meine Mutter hat uns den alten Baumschmuck geliehen...» Monika hatte wieder Tränen in den Augen: «Wenn es das Kind freut, ist es mir recht... ich werde noch ein paar Sterne basteln...»

Es war die Nacht vor dem Heiligen Abend. Maurice hatte zusammen mit Monika den Baum geschmückt. Und die Stubentür geschlossen. Die Kleine sollte mit dem Baum überrascht werden.Monika zeigte Maurice ein Geschenkpäckchen: «Für Lucie. Die Barbiepuppe. Es ist der absolute Horror... aber sie wünscht sie sich so sehr...» Der Mann nahm Monika in die Arme. Sie weinte.

Lucie lag im Bett. Ihr war heiss. Dann wieder kalt. Sie war aufgeregt. Und konnte nicht schlafen. Das Mädchen musste an das grosse Tor denken: Morgen war der Tag, an dem es das Türchen öffnen würde. Lucie hoffte, dass es wie damals beim Kalender von Maja auch diese lachenden, musizierenden Engel sehen würde und...

Plötzlich wurde das Kind von einem Lichterstrahl aufgeschreckt. Er leuchtete unter der Stubentür hindurch. Das Mädchen versuchte sich aufzurichten. Und stemmte sich in den Kissen hoch. Aber es war zu schwach.

Draussen schlug die Uhr von der nahen Kirche zwölf Mal. Die Stubentür öffnete sich leise... und Lucie sah, dass es nicht eine Zimmertür, sondern das grosse Tor war. Ein weisser Schein leuchtete hell über einem riesigen Weihnachtsbaum. Die Engel lachten von der Leiter - und diese Leiter führte zum warmen, gleissenden Licht.

Lucie spürte keine Kälte und keine Hitze mehr. Das Kind war glücklich... Es fühlte sich plötzlich federleicht. Ganz langsam stieg es aus dem Bett und ging zum grossen Tor.

Monika und Maurice fanden das Mädchen am Morgen im Bett. Sein Gesicht war eiskalt - aber die Lippen zeigten ein glückliches Lächeln. In den Händen hielt Lucie den Advents kalender. DIE NUMMER 24 STAND WEIT OFFEN.

Das Jesuskind lag in der Krippe - über ihm war das gleissende, helle Licht.

Dienstag, 24. Dezember 2019