Von der Tischordnung und dem Weihnachtsessen

Illustration: Rebekka Heeb

An Weihnachten gings ums Essen. Immer.

Kann man sich heute nicht mehr so vorstellen.

Aber unsere Eltern hatten eben die Kriegsjahre hinter sich, wo sie sich ein Ei im Monat auf teilen mussten.

UND SCHOKOLADE GABS NUR IM HIMMEL.

Heute kennen wir das alles von Diäten.

Kein Brot... keine Butter... keine Nudeln... von Pralinés (dunkel) wollen wir gar nicht reden... nur Protein-Drinks und vegane Meeresalgen!

ABER HALLO!

Das Angebot ist da. Man könnte zugreifen. Aber man kann eben doch nicht: Gluten-Probleme... Sau-Allergie... vegane Tochter...

DIE KRIEGSJAHRE HABEN UNS WIEDER EINGEHOLT.

Zurück zu den Alten.

An Weihnachten wurde geprasst. Für einmal war sich die arme Trämler-Seite mit der finanziell stärkeren Börsen-Seite einig: ES MUSS KRACHEN!

Meine Mutter war eine grossartige Gastgeberin. Auf den 1. Advent hin liess sie auch noch die hinterste Ecke mit Tannengirlanden dekorieren. Engel schwebten über goldenen Spiegeln. Und sie konnte stundenlang über ihrer Tischordnung brüten.

Sie schob die kleinen Kartons mit den Gästenamen herum, ähnlich wie der Croupier die Jetons. Dabei murmelte sie Bruchstücke von Sätzen: «Nein Agathe... nicht neben Nelly... da war diese Erbteilung... sie liegen sich noch immer wegen der Dessertteller in den Haaren!»

Manchmal zerriss sie einen Namen und brachte einen neuen Karton hervor - irgendeine Freundin meines Vaters war in Ungnade gefallen. Nicht bei ihr. Bei i h m. Also musste alles neu überdacht und frisch arrangiert werden. Dies betraf dann sowohl den Freundinnenreigen wie auch die Tischordnung. Mutter liess sich das Regiebuch nie aus den Händen nehmen.

Die cremefarbigen, kartonartigen Rechteckchen hatte sie sich beim alten Papierhändler Humbel zuschneiden lassen. Sie wurden in einer Schachtel mit Rosenmuster aufbewahrt. Und kamen nur für die Tischordnung zum Zug. Drei Stapel waren bedruckt:

LOTTI...

HANS...

DAS KIND...

Sie schob die Dinger herum wie der Spieler die Schachfiguren. Und sie bläute mir schon früh ein: Die richtige Tischordnung ist das A und O eines Abends. Du musst zwei Menschen nebeneinandersetzen, die das Heu nicht auf derselben Bühne haben - schon ladet sich ein Gewitter auf. Die Menschen spüren die Spannung spätestens nach der Suppe. Und beim Hauptgang krachts!

Da kann die Gans noch so köstlich sein - zwei streitende Hühner machen dir das beste Essen zur Sau.

Onkel Alphonse beispielshalber kam immer neben die Gast geberin. Das war nicht etwa eine Ehre. Es war ein Muss und taktische Vorsicht.

Onkel Alphonse soff den Wein wie die Kuh das Wasser. Spätestens nach dem dritten Glas rezitierte er Frau-Wirtin-Verse - und das vor dem Stall mit der Heiligen Mutter!

Mutter kontrollierte also knallhart den Weinkonsum von Alphonse («Ich glaube, es genügt jetzt, mein Lieber!»). War er dann doch mal etwas überbeschwingt, stoppte sie ihn mit einem eisigen Würgegriff ab, wenn er ans Glas klopfen und Luft für die Rezitation holen wollte.

Parallel zu Alphonse achtete Mutter darauf, dass Fanny ihr Hörgerät angestellt hatte. Mit ihrem konstanten «Was hast du gesagt!?» konnte sie einem Sitznachbarn zünftig auf die Eier gehen.

Und wenn Mutters jüngste Schwester Jolanda (viermal geschieden) mit einem allzu tiefen Décolleté aufkreuzte, deckte sie das rosige Fleisch noch unter der Eingangstür mit einer nachtschwarzen Wollstola ab - nun ja, so wie der Maler die Möbel beim Wändestreichen: «Wir sind hier nicht im Puff, Jolanda - es ist eine schlichte Weihnachtsfeier für Christen!»

Diese Schulterdecken, die Mutter auf dem Markt von Cannobio gleich mal im Dutzend gekauft hatte, kratzten fürchterlich.

Sie kamen mitunter auch bei Freundinnen meines Vaters in Einsatz - immer nur e i n m a l. Nach dem Weihnachtsfest hatte jede der Stola-Trägerinnen die Krätze am Busen.

Mutter lakonisch: «So etwas lehrt sie... nächstes Mal kommen sie hochgeschlossen, wie es sich für den Geburtstag von Gottes Sohn gehört.»

Meistens kamen sie überhaupt nicht mehr. Mein Vater war konstant in den Wechseljahren, was seine «Weiber» betraf...

Das grosse Problem von Mutter: Sie konnte nicht kochen. Sie hatte es nie tun müssen.

Und sie hatte auch keine Lust, es zu lernen: «Wir leben in einer Zeit, wo uns Frauen die moderne Kochindustrie gottlob die Kelle aus den Händen genommen hat.»

Wenn man Mutter eine grosse Freude bereiten wollte, schenkte man ihr einen neuen Büchsenöffner. Kochbücher (von ihrer Schwiegermutter Jahr für Jahr voller Hoffnung auf bessere Zeiten unter den Baum gelegt) wurden mit einem «Vergelts dir Gott, Anna!» entgegengenommen. Am Stephanstag wurden solche Bücher dann jedoch im Kamin verbrannt.

Wenn die Omi sich an Mutters Essen später dann mit tränenden Augen durch die zähen Dörrbohnen kaute: «WO SIND EIGENTLICH MEINE KOCH BÜCHER, CARLOTTA?!», log die Schwiegertochter, ohne auch nur zu erröten: «Alle ausgeliehen, Anna!»

Immerhin - so mies der Frass beim Funkelbaum auch war, es kamen stets alle, deren Namen Mutter aufgeschrieben hatte. Ihre Weihnachtsfeier war ein MUST. Und ihr plötzliches Wegbleiben am Tisch ein Schock.

«Übernimm du», hatte Vater geseufzt.

Ich holte die Schachtel mit dem Rosenmuster. Und stierte auf die Kärtchen.

Da waren die mit LOTTI.

Stumm warf ich sie in den Abfall.

HANS folgte 23 Jahre später.

Geblieben ist nur noch DAS KIND - etwas angegilbt...

Dienstag, 17. Dezember 2019