Vom Wandel mit Kläusen und dem geklauten Milchgeld...

Illustration: Rebekka Heeb

Bald schellen die Kläuse dieser Welt wieder durch die Gassen.

Oder sie zeigen sich umweltfreundlich auf dem Stahlross, das ihnen mit einem kleinen Elektromotor das Strampeln im wallenden roten Mantel erleichtert.

Nikoläuse sind heute lieb, gütig, umweltbewusst.

Sie winken aus dem Weihnachtstram und gehen als Zwischending von Brechts Mutter Courage und amerikanischem Father Christmas durch den 6. Dezember.

ABER HALLO - DAS WAR FRÜHER GANZ ANDERS!

DER NIKOLAUS WAR DER KOTZBROCKEN IN DER HEILEN KINDERWELT!

Er versaute uns die schöne Vorweihnachtszeit. Und man freute sich auf ihn wie auf den Wurm im Salat.

Wir kleinen Dumpfbirnen glaubten an die Existenz des Nikolaus. Onkel und Grossmütter bauten die drohende Figur auf, wie Doktor Frankenstein sein Monster. Wir glaubten auch an die grosse Gefahr, die von seinem Sack ausging. Und wir schluckten die vertrottelte Geschichte über seinen Esel, den er jedes Mal in den Langen Erlen an einen Baumstamm gebunden haben soll, nur weil der arme Miniatur-Gaul nicht bis zum zweiten Stock der Trämlers wohnung raufhumpeln könne.

Wochenlang zitterten wir in Gedanken an den grossen Sack und die Rute, mit der dieser Halbwilde in unserer Stube herumfuchtelte wie damals Nikita Chruschtschow mit dem Schuh.

Und wir lernten fleissig ein halbes Dutzend Verslein auswendig, um das Monster und seinen fiesen Kumpel Ruprecht gütig zu stimmen.

Kleine Kinder wollen nicht tief in den Wald eines Nachbarlands verschleppt werden, um dort runzlige Kartoffeln zu pellen - unsere Alten akzeptierten allem Anschein nach so eine miese Art von Kinderarbeit.

Wie viel netter war das Bild vom Christkind, das kommentarlos unsere Wunschliste von der Fensterbank zupfte (und im ärgsten Fall die Puppe vergass). Obwohl das Christkind fliegen konnte, hatte es keine Vampirzähne. Sondern nur dieses gütige, sanfte Lächeln von seiner Mutter, deren Rolle wir immer so gerne im Krippenspiel spielen wollten.

NATÜRLICH VERGEBLICH! Eine heilige Mutter hatte blonde Haare und war im Pass als «WEIBLICH» registriert - SO BESCHEUERT DACHTE DIE WELT DAMALS NOCH! KEIN GENDER DENKEN, KEINE GROSSZÜGIGKEIT - N I C H T S !

Doch zurück zum leidigen Thema mit dem Mann und dem Sack. Ich habe mir vor dem Alten also die Hose vollgemacht. Nächtelang wälzte ich mich schlaflos im Bett hin und her. Überlegte: Wo hat der Fiesling Handhabe gegen mich... was lief wo, wie, wann krumm?

Na gut - die Erwachsenen hatten gross auf Drama gemacht, als ich das Milchmann-Geld in den Kästchen der Nachbarschaft einsackte und die Tat cool abstritt: «Kleine Buben, die stehlen, pflückt der Santiklaus in seinen Sack. Solche Kinder müssen im dunklen Tannenwald runzlige Kartoffeln schälen, und es gibt in jenem düstern Loch keine Radio-Kinderstunde mit der Trudi Gerster drin...»

O JAMMERTAL - TRUDI GERSTER KAM GLEICH NACH DEM CHRISTKIND!

Ich versuchte es mit altklugen Einwänden: «...und wie will dieser Klaus überhaupt wissen, dass i c h das Milchkässeli-Geld genommen habe?»

Die Grossen machten dann diese schlauen Gesichter, die alles wissen (und wie wir sie heute zur Genüge von «Tagesschau»-Kommentatoren kennen): «Unsichtbare Geister flüstern ihm deine schändlichen Taten zu. Er notiert sie alle in sein dickes schwarzes Buch...»

NA GUT - ICH WUSSTE: DER GEIST WAR DIE ALTE GYGAX, DIE MICH EH AUF DEM KICKER HATTE, SEIT ICH IHR DAS SCHLÜSSELLOCH MIT KAUGUMMI ZUGEKLEBT HATTE.

Der Mann in der schwarzen Pelerine mit der heiseren Stimme von Louis Armstrong schien besser organisiert als ein Stasi-Spion. Nur die Tarnung mit dem Nylon-Bart war - retrospektiv betrachtet - etwas arg kleinkariert.

Es war Müllers Marie-Louise, die in der Waschküche ihrer Mutter die Aufklärung brachte.

Meine Spielplatz-Freundin sagte, wos langging: «Es gibt keinen Storch, der Kinder bringt. Und es gibt genauso wenig einen Nikolaus, der fiese Gören wegschleppt. Ich zeige dir jetzt, was Sache ist...»

MÜLLERS MARIE-LOUISE LIESS DARAUFHIN DIE KATZE AUS DEM SACK - IHR WISST, WAS ICH MEINE...

Jedenfalls: Der Bart war ab. Zumindest was meine Klausenphobie anging. Frau Müller hat dann allerdings ein riesiges Theater veranstaltet, als sie uns inmitten der Aufklärung vor dem Waschzuber überraschte.

Sie zog mich an den Ohren zu den Erzeugern des verdorbenen Knaben. Und «Oje... oje... der Hanspeterli kommt ganz nach seinem Vater» jammerte die Oma der guten Seite. Und gab gleich noch einen obendrauf: «...warte nur, bis dich der Santiklaus mit dem grossen Sack holt!»

Aber aus diesem Sack war die Luft endgültig ab. Wir kletterten nun dem fremden Mann auf die Knie. Leckten ihn ein bisschen am Bart. Und bissen ihm in die rote Rübe - bis die entsetzten Eltern den gemieteten Klaus erlösten. Und der mit leerem Sack das Haus verliess: «DIESEM SAUBUB GEHÖRT GEHÖRIG DER ARSCH VERSOHLT!»

Ich kam ohne Nachtessen und Mandarinen ins Bett.

Damit konnte ich leben.

Denn künftig schlief ich gut, wenn ich wieder die Milch kästen ausgeräumt hatte...

Dienstag, 3. Dezember 2019