Von der dicken Berta, die eigentlich Paula hiess...

Illustration: Rebekka Heeb

Sie hiess Paula. Aber alle nannten sie Berta - die dicke Berta.

Ich war fasziniert von ihr. Mich schauderte vor ihrem Büstenhalter, in deren Körbchen gut drei Dutzend junge Katzen problemlos hätten spielen können. Und ich wusste nie, ob ich heulen oder grinsen sollte, wenn ihr Beinkleid hochgehalten wurde: «Das ist sie - die Unterhose der dicksten Frau der Schweiz!»

Der Zirkuswagen stand in der Rosentalanlage. Und Herr Buser, der Besitzer dieses rollenden Etablissements, in dem Paula, alias Berta, während 30 Jahren Schaubudenzeit wohnte, brüllte ins Mikrofon. Seine Sätze überschlugen sich vor Begeisterung: «Treten Sie näher... besuchen Sie diese fleischlichen Berge... Berta wird Ihnen gerne auch ihre Knie zeigen. Fred Astair hat darauf herumgesteppt dort ist die Kasse die dicke Berta wird alle Fragen beantworten...»

ICH GING MIT ONKEL WILLI. WILLI WAR DIE SCHRÄGE TYPE DER FAMILIE!

Seine Macke: er liebte nur Frauen, die gut 200 Pfund auf die Waage brachten.

Der Vetter meiner Mutter war mickrig. Klein. Und wurmig von Gestalt. Ich meine: er gab nichts her. Kaum 55 Kilo. Und natürlich träumen diese mageren Ästchen immer von den üppigsten Blüten auf dem Feld.

Onkel Willi war ledig. Er schielte arg, was damals schwer zu richten war. Und er hatte Zähne, die dem Kuchen drei Sprünge voraus waren. Auch das wurde nicht gerichtet. So nannten ihn alle «das schräge Kaninchen».

Immerhin - Willi hatte einen grossartigen Job. Er war Vorarbeiter im Farben-Sektor. Und weil er bei Ciba angestellt war, konnte er günstig zu «Haarwasser» und «Wundsalben» kommen. Das Unschöne machte Willi somit durch Rabatte wett.

Trotzdem - Willi war unglücklich. Schon drei 200-Pfünder hatten ihm einen fetten Korb gegeben - die vierte führte er dann zum Altar. Sie war eine Spanierin aus Malaga mit dem blumigen Namen Azalea. Und ich erinnere mich, dass ich dazu auserkoren war, die Schleppe ihres Brautkleids zu halten.

Die Schleppe war so breit wie eine amerikanische Autostrasse - und ganz vorne ging der weisse Elefant. Die Gaffer machten sich in die Hose vor Lachen - aber ich kam mir sehr wichtig vor, weil ich für die Hochzeit in dunkelblauen Samt gehüllt wurde. Ich hätte allerdings lieber ein Diadem als diese irr blöde Busi-Mütze mit den Klappohren auf dem Haar gehabt. Doch meine liebe Mutter seufzte: «E i n e schräge Nummer in der Familie reicht, Bubi!» Und die Kembserweg-Omi freute sich für das magere Kaninchen: «Ich sags ja immer - jedes Töpfchen findet sein Deckelchen!»

NUN - BEI DER SPANISCHEN AZALEA KONNTE WEISS GOTT VON EINEM «TÖPFCHEN» KEINE REDE SEIN! DIE GING KLAR UNTER «GULASCH KANONE». UNTER ABORGELN DES BRAUTMARSCHS PFLÜGTE SIE DEN WEG ZUM ALTAR.

Es ist von jenem Anlass nur e i n Foto erhalten geblieben: Azalea wie die Kugel des Universums ihrem Strichmännchen sechs Schritte voraus! Als Ensemble sahen die zwei aus wie ein in Bewegung geratenes Ausrufezeichen!

WIE GESAGT: ALLE ANDEREN HOCHZEITSFOTOS SIND WEG. UND AZALEA AUCH. Noch in der Hochzeitsnacht hat sie ihren aufgeregt herumhampelnden Willi abgeworfen. Und sich für immer aus dem Staub gemacht. Willi war wieder allein, noch bevor er den Aufstieg in die üppigen Höhen des Lebens geniessen konnte.

Dann eben die Herbstmesse!

«Ich drehe mit dem Buben dann mal eine Runde...», schnüffelte der Onkel depressiv zu seiner Cousine.

«Pass auf, dass er sich nicht wieder die Lippen mit Zuckererdbeeren schminkt...», gab sie ihr Okay.

Dann standen wir vor dem Artistenwagen. Und Onkel Willi seufzte tief, als Bertas Hose im Winde wehte.

Die dicke Berta sass auf einem Stuhl, der eigentlich schon eher ein Sofa war. Ich meine - der Stuhl ging in die Breite, wie es auch Berta gegangen war.

Berta hatte sich in einen bodenlangen Morgenrock gehüllt. Sie lächelte zauberhaft. Überhaupt: auf dem dicksten Körper der Schweiz zeigte sich ein wunderbarer Puppenkopf mit feisten, rot funkelnden Backen. Und mit herrlich blauen Augen, die zum Publikum strahlten. Das Ganze hätte eine nette Teestunde in einem Variété-Wagen werden können, wenn nicht so eine grobklotzige Dumpfbacke gerufen hätte: «Zeig mal die Knie, Berta - deswegen sind wir ja hier...»

DIE AUGEN LÄCHELTEN NOCH IMMER - ABER DER KLEINE, SENSIBLE BUB SPÜRTE DARIN EINE LEISE TRAURIGKEIT. ER HÄTTE DIE DICKE FRAU AM LIEBSTEN UMARMT.

Berta nahm den untern Teil ihres Morgenmantels auseinander - da sah man dann dieses gigantische Knie. Und die Leute im Wohnwagen wurden still.

Die Frau erzählte von ihrem Leben. Dass sie Paula heisse - eigentlich Paula Sonderegger. Aber sie habe geheiratet. Und ihr richtiger Name wäre Gosteli. Sie leide an einem Drüsen leiden - und sei schon zur Kinderzeit im appenzellischen Oberegg wegen ihrer Figur ausgelacht worden. Sie habe aus ihren 234 Kilos das Beste gemacht - ihren Humor behalten. Und mit den Pfunden ihr Leben verdient.

«Willst du eine Zuckererd beere?», fragte Onkel Willi, als wir über die Rosentalanlage zur Tramstation gingen. Ich schüttelte den Kopf. Mir war nicht um rote Lippen. In mir war noch immer diese leise Traurigkeit. In Onkel Willi auch.

P.S.: Die dicke Berta - die nach der berühmten Kanone des ersten Weltkriegs ihren Namen hatte - starb 62-jährig. Sie wurde in Zürich begraben. Und wog bei ihrem Tod noch 135 Kilo.

Dienstag, 5. November 2019