Der Therapeut und die Hoffnung

Sepp stierte auf die Wand: aufgehellter Lila-Ton. Zwei Risse im Gemäuer. Und eine Fliege, die summend auf dem gerahmten Foto eines indischen Gurus herumspazierte.

Der Guru trug einen knielangen Bart. Und einen orangen Umhang. Der Bart war fleckig - der Umhang auch.

Sepp holte das Handy aus der Hose. Und wollte Agnes anrufen. NATÜRLICH - KEIN EMPFANG IN DIESEM REICH DER SELIGEN WELLEN!

Agnes hatte ihm vom Therapeuten vorgeschwärmt: «Amal ist gelernter Buchhalter. Dann ist die Erleuchtung über ihn gekommen... » Aha.

«Ja - früher war er Otto. Otto aus Olten. Aber nach seinem Aufenthalt im Buddhistenkloster vom Odenwald hat er sich Shiva genannt. Das führte allerdings zu Verwechslungen. Leute erkundigten sich nach Lottozahlen bei ihm... » Ach so.

«Ja - dann ist er auf Amal gekommen. In unserer Sprache bedeutet das so viel wie die Hoffnung. Es bringt nichts, einfach mit deinem zusammengeflickten Fuss zu einem Physiotherapeuten zu hinken. DU MUSST DIE EINHEIT SEHEN. DAS GANZE. DU MUSST MIT DIR SELBER ÜBEREINSTIMMEN - DANN HINKT AUCH DER FUSS NICHT MEHR!»

Als Sepp seinem Physiotherapeuten Werner Kniebeuger von Amal berichtete, zuckte der mit den Schultern: «...Sie humpeln dann vielleicht psychisch ausgeglichener...» SO EIN ARSCH!

Sechs Wochen schon hatte sich Sepp bei Kniebeuger mit harten Übungen abgemüht: auf den Zehenspitzen wippen den steifen Fuss an die Wand drücken und eine Spannung aufbauen! Nach anderthalb Monaten: null Fortschritt. Nix. Nada.

Kniebeuger wurde leicht säuerlich: «Machen Sie die Therapie jeden Tag zu Hause?!»

«Aber klaro», log Sepp.

Die einzige Übung, die er gerne machte, war auf dem Bett liegen. Und die Füsse rauf und runter strecken: 3 Serien à 25-mal. Es war, als würden zehn Zehen lässig dem Bettpfosten zuwinken. Dazu zog Sepp sich Pommes-Chips aus der Tüte rein.

«Du krümelst das ganze Bett voll», hatte Agnes ihn giftig angebellt, «...und dann liegt es wieder an mir, das Leintuch zu wechseln...»

Sepp grantig: «WER IST HIER INVALID - DU ODER ICH?»

Agnes hatte pikiert geschwiegen. Und später am Handy ihrer besten Freundin das Ohr vollgejault: «Heirate nie einen mit Plattfüssen, Klara!»

Jetzt: die neue Hoffnung durch Amal. An der lila Mauer gab es blumige Sprüche wie: GEDULD IST DER ANFANG ZUM INNEHALTEN. Und: ÜBERWINDE DIE GIER...

Sepp hielt nun schon 50 Minuten inne. Wer so lange in einem Wartezimmer hockt, in dem es grässlich nach synthetischem Rosenöl duftet, der spürt, dass Geduld hier nicht der richtige Weg zur Heilung ist...

AMAL ERSCHIEN DANN IN EINER FLATTERNDEN BATIKHOSE. ER VERBEUGTE SICH VOR SEPP.

Dann führte er ihn in einen Raum mit Duftkerzen.

Sphärische Glockenklänge bimmelten aus einem Lautsprecher. Und in einer grünen Kunststoffschale plätscherte ein Miniaturspringbrunnen. «Dort ist deine Matte, Sepp», sagte Amal.

«Du siehst erregt aus... du musst mit dir eins werden. Zuerst suchen wir nach deinem inneren Frieden. Setze dich im Schneidersitz auf den Boden...»

ZEHN MINUTEN SPÄTER FUHR SEPP JAULEND MIT EINEM HEXENSCHUSS ZU THERAPEUT KNIEBEUGER.

Jammernd kam er nach Hause. Agnes schüttelte den Kopf: «Himmel, bist du ein Depp. Ich hätte es wissen müssen...»

UND: »FRESSTÜTEN IM BETT SIND AB SOFORT GESTRICHEN!»

Im Schlafzimmer winkte er den Bettpfosten mit seinen zehn Zehen zu.

Ohne Chips. Und ohne inneren Frieden.

Freitag, 18. Oktober 2019