Sie schaute zum Kranführer mit der roten Schildmütze. «Ein Spanier», dachte sie. Und winkte ihm zu. Manchmal träumte sie von ihm - einen heissen, spanischen Traum: Sie sass im Kran auf seinem Schoss.
Und er flüsterte ihr «te quiero mas que mi vida» ins Ohr.
Schweissgebadet wachte sie jeweils aus dem Traum auf. Sie war nicht schwindelfrei. Und die Krankabine drei Münstertürme hoch über der Erde.
Wo einst ein wunderbarer Park war, herrschte nun Chaos. Allerdings - logistisch perfekt geordnetes Chaos: EINE BAUSTELLE FÜR 5 HÄUSER!
Der Kranführer winkte Milly jetzt zu. Sie prostete ihm mit ihrer Kaffeetasse entgegen. Er schwebte in höheren Sphären. Milly in den Tiefen einer frisch pensionierten Buchhalterin.
«Es wird am Anfang langweilig sein - du brauchst eine Struktur!», hatte Nelly geunkt. Und «Such dir einen Mann!»
Milly hatte keinen Plan, in dem Männer vorkamen. Sie wollte überhaupt nichts planen - nur ihre frische Freiheit geniessen: Sie wollte für einige Wochen nach Spanien.
Dann kam diese Baustelle.
Auf dem Berg voller Erde, den der Kranführer - sie nannte ihn in Gedanken Juan - aufgehäuft hatte, wucherten Pflanzen und Büsche.
Sie hatte sich vorgestellt, wie Juans Baggerzähne hier plötzlich auf eine Leiche stossen würde: Vermutlich die kleine Brasilianerin von Balkon -3-.
Milly hatte nämlich beobachtet, wie deren Mann (ein dickbäuchiger Rentner) die Frau angeschrien hatte, als sie vor der Küchentür eine Zigarette rauchte. Seither war sie nie mehr auf dem Balkon erschienen. ABER HALLO! - Millys Vorstellungskraft war besser als die von Hitchcock in seinem «Fenster zum Hof»: DER DICKBAUCHRENTNER HATTE DIE LEICHE IN DER GRUBE VERSENKT!
Sie wollte eben die Tasse wegräumen, als das Unfassbare geschah: Die Baggerzähne schwebten über dem aufgeschütteten Berg. Menschen kamen herbeigerannt. Und Milly sah, wie Juan seine Krankabine verliess.
SIE JAGTE ZUM TATORT.
Milly würde dem Kommissar einiges über die vergrabene Leiche und einen gewissen Rentner verraten können.
VOR DEM HÜGEL STANDEN VIELE MENSCHEN. AUCH JUAN.
Alle stierten auf den Schuttberg - dann entdeckte es Milly: zwei Aaskrähen, die empört vor ihrem Nest herumkrächzten.
KRANFÜHRER JUAN LACHTE: «Die haben hier das Nest gebaut - ich bin übrigens Reto aus dem Simmental...»
In diesem Moment erschien auch der fette Rentner mit seiner Brasilianerin am Arm. Die Frau paffte das Graue vom Himmel.
EIN EXPERTE AUS DEM ZOO NAHM SICH DER VÖGEL AN.
Der Bauführer knurrte: «Hopp... hopp... bewegt euren Arsch. Wir sind eh einen Monat im Hintertreffen!» Die Arbeiter stülpten die Helme über. Und die Gaffer machten sich aus dem Staub.
Milly verabschiedete sich von Juan dem Spanier. Er hiess jetzt plötzlich Reto. War aus dem Simmental - und unter der Mütze glatzköpfig.
«Schön, dass wir uns begegnet sind... ich bin ab morgen in Barcelona...», sagte sie.
Retos blaue Augen blitzten: «Schade... ich werde Sie vermissen irgendwie hat mir Ihr Gruss jeden Morgen den Tag gemacht... ich bin übrigens ein guter Jodler!» Milly wusste nicht recht, was sie mit Reto, dem Jodler, anfangen sollte.
Tatsache ist, dass sie seit drei Wochen in Spanien hockt. Und jede Nacht vom Simmentaler träumt: Hoch oben in der Krankabine jodelt er ihr Verse wie «Am Morge, wo dr Güggel chräijt...» in die Ohren.
Milly kommt nächste Woche heim. Sie hat sich für Jogastunden gegen Höhenangst angemeldet...