Das Halstuch

«Ludwig wollt mich umbringen, Susi. ERMORDEN!»

Susi stierte mit ihren funkelnden Knopfaugen zu Marie-Claire. Diese uferte total aus: «Zack - plötzlich hatte ich dieses Halstuch um den Hals. Und dabei war es mein bestes von Hermès...»

SUSI SASS GEBANNT AUF DEM SESSEL.

«...gottlob lag das scharfe Steakmesser auf dem Tisch. Es sollte Bistecca Fiorentina geben und du weisst ja: für Bistecca braucht es die ganz scharfe Klinge. Du bekommst die Sache sonst nicht vom Knochen. Die Kühe sind heute zäher als früher, Susi - gottlob, muss ich jetzt sagen. Sonst wäre das Messer zu stumpf gewesen...»

Susi wollte sich nicht dazu äussern. SIE WAR EH MEHR FÜRS FEIN GEHACKTE...

«Da lag also das Messer neben dem Teller: ich spürte den Shawl an der Gurgel. Ich sah die Klinge. Und dann reagierte ich im Affekt. Doktor Pillerli sagt ja immer, meine Reaktion sei noch phänomenal, Susi. Na gottlob - kann ich ihm nur beipflichten: GOTTLOB!

Ich stiess also wild drauflos. Und Ludwig schrie wie eine abgestochene Sau. Dabei hatte ich nur seine Hand erwischt. Und in diesem Moment klingelte es...»

Susi hatte keine Worte! Es war spannender als jeder TATORT.

Marie-Claires Stimme zitterte jetzt: «...vor der Tür stand Frau Häberlin von nebenan. Sie wollte sich ein bisschen Mehl ausleihen.

WENN MEINE NACHBARIN AN JENEM ABEND KEINEN KUCHEN GEBACKEN HÄTTE, WÄRE ICH TOT, SUSI. ERDROSSELT HÄTTE ER MICH IN DIE GRUBE GESCHICKT!...»

Marie-Claire stand jetzt mühsam vom Tisch auf. Sie war immerhin bald 90: «Vor Gericht wollte er den Geschworenen weismachen, das mit dem Hermès-Shawl sei reine Liebe und Fürsorge gewesen. Ich würde doch zu Angina neigen.

ANGINA! DABEI WAR ICH EIN LEBEN LANG KERNGESUND - DAS SAGT AUCH DOKTOR PILLERLI!

Na ja - vier Monate später waren wir geschieden. Ich hatte genug von Männern. Ich wollte schon immer nur jemanden zum Schwatzen haben. Und Ludwig war nie der Causeur-Typ. Er brummte stets: Mein ewiges Geschnäder gehe ihm auf die Eier a.u.f d.i.e E.i.e.r - seine Worte, Susi!»

Die alte Frau schaute plötzlich fröhlich: «Jetzt mache ich uns einen schönen, starken Mokka ...nicht dieses lauthektische Kasperl-Kapsel-Zeugsmit Filter und richtig schön langsam.»

SUSI SASS NOCH IMMER SCHWEIGEND IM FAUTEUIL.

Die funkelnden Augen waren auch jetzt auf Marie-Claire gerichtet. Diese klapperte in der Küche mit den Tassen herum. Schon als Mädchen hatte Marie-Claire allen die Ohren vollgeschwatzt. Ihr Hang zur Kommunikation war ausgeprägt gewesen. Zu Hause gabs nur einen schwerhörigen Opa und die ledige Mutter, die auf der Post Pakete sortierte. Also war keiner da, der zuhören konnte.

MIT 17 MACHTE SIE EINE VERKÄUFERINNEN-LEHRE.

Der Chef tadelte sie: «Sie labern den Kunden die Ohren rot! Sie sollen v e r k a u f e n. Nicht plaudern!»

Freunde gabs nicht. Die meisten Bekannten machten einen Bogen, wenn Marie-Claire auftauchte. Ihr Mitteilungsbedürfnis war zu krass. Heute würde sie wohl einen Blog schreiben. Aber damals lag sie den Menschen einfach nur verbal in den Ohren.

AUCH LUDWIG HIELT ES NICHT MEHR AUS. DIE EHE DAUERTE 9 MONATE. DANN: DAS HALSTUCH!

Als Marie-Claire mit dem Kaffeegeschirr hereinkam, gab es ein lautes Geschepper. Sie brach vor dem Tisch zusammen: Exitus.

SUSI WAR SPRACHLOS. Aber sie weinte der Dahingerafften keine Träne nach.

SEIT 35 JAHREN WAR SUSI DIE IDEALE ZUHÖRERIN VON MARIE-CLAIRE GEWESEN. SCHWEIGEND. ABER STETS ANTEIL NEHMEND.

Sie kam ins Brockenhaus. Dabei hätte sie viel zu erzählen gehabt. Doch Plüschkatzen haben keinen Blog.

Freitag, 13. September 2019