Tanja nahm den Wurm.
Sie hielt ihn hoch wie eine allzu weich gekochte Nudel. Dann liess sie ihn auf ihre Zunge gleiten.
SCHLIESSLICH HAT SIE IHN GESCHLUCKT.
Gekreische von uns Kindern. «Sie hat den Wurm geschluckt sie hat den Wurm geschluckt!»
DARAUFHIN MUSSTEN WIR TANJA EINEN FÜNFRÄPPLER BLECHEN!
Damit kaufte sie zehn dieser köstlichen Karamellkugeln, die sie sofort dem Wurm nachschickte.
Ich meine: Das Wurmschlucken von Tanja in den 50er-Jahren war aufregender als jede «Tatort»-Leiche von heute.
AUF DEM HEIMWEG ÜBERLEGTE ICH, OB ES WOHL SCHLIMM SEI, SO EINEN WURM RUNTERZUSCHLUCKEN. Ich war ein Riesenfan von 5-Centimes-Karamellen, die wir prosaisch 5er-Bölle nannten. Auch Cola-Frösche gabs für dieses Geld. Und Plastikröhrchen, die mit Zuckerkügelchen in Regen bogenfarben aufgefüllt waren.
Zu Hause also: «Tanja hat einen Wurm geschluckt.»
Der Vater: «Hat er noch gelebt?»
Die Mutter: «Hat sie Mayo drauf gegeben?»
Die Oma: «Als ich vor meiner Hochzeit entsetzlich an Magenschmerzen litt, musste ich einen roten, lebenden Weinbergschneck schlucken. Danach stellte sich heraus: Ich war lediglich schwanger!»
Wurmschlucken war in den 50ern Alltag. Und warf keinen vom Dampfer.
Wenn wir auf dem Spielplatz im Sandkasten sassen und mit Blechformen kleine, feuchte Kuchen ausstachen, war ganz klar: Die mussten gekostet werden. Also verschluckten wir uns am Sand. Husteten die Lungen blau. Und die Mütter riefen auf den Bänkchen, ohne von ihren Illustrierten aufzuschauen: «Esst nicht zu viele Sandkuchen - es gibt Eierbrot zum Znacht!»
Wir rauchten Nielenhölzer, die von Mikroben wimmelten und wunderbar süsslich schmeckten. Und wir saugten auf der Adelbodner Alp an Blumen, die mit Läusen voll waren. Dies hinterliess dann einen klebrigen Honiggeschmack auf der Zunge.
Mein Freund Roland hat damals gar für drei englische Glasglugger in einen Engerling gebissen. Die weissen Maden, ringelten sich zu jener Zeit im Erdbeerbeet. UND ES WAR NOCH NICHT DIE ZEIT, ALS DAS SUPERCENTER SOLCHE DINGER FRITTIERT IN SEINEM COCKTAIL-SORTIMENT GEFÜHRT HÄTTE.
Kurzum: Wir haben als Kinder nichts ausgelassen. Nur Lebertran. DEN DANN DOCH NICHT! DER GING EINFACH NICHT RUNTER.
Und nun drehen wir die Uhr ein halbes Jahrhundert vorwärts.
Ich bin noch immer heiss auf kulinarische Entdeckungen. Und ziehe auf meinen Reisen alle diese Dinge rein, vor denen mich die Umwelt warnt: «Um Himmels willen nichts von der Strassenküche in Manila essen; dein Magen wird donnern wie ein Alpengewitter!» Oder: «Kein Sweet-and-sour-Pork in Chinatown - das sind gekochte Hunde; ich habs selber gesehen!»
Und vor allem: «KEINE PRODUKTE, BEI DENEN NICHT ALLE GESUNDHEITSMINISTERIEN EUROPAS UND DIE LEBENSMITTELPOLIZEI UNSERES LIEBEN LANDES IHR AMEN DARÜBER GEHAUCHT HABEN!»
So passiert es, dass ich in meinem Lieblingsbeizlein nach dem Dessertwagen frage. Und die Kellner frustriert mit der Schulter zucken: «Geht nicht... mussten wir abservieren... aus hygienischen Gründen... es könnte jemand in den Pudding husten!»
Wenn ein Metzger auf unserm Markt ein Stück vom Rind oder eine Kalbsleber anbieten will, muss er um die toten Tiere eine Kühl- und Schutzvitrine bauen wie die Ägypter die Pyramide um den toten Pharao. Der Kühlwagen kostet Metzger Schnetzler eine halbe Million Franken. Einen ersten Gewinn kann somit erst die achte Schnetzler-Generation einfahren. Dann wäre aber wieder ein neuer Kühlwagen fällig, weil der alte abgesprochen worden ist.
Meine Adelbodner Nachbarin, die auf ihrer Alp aus Rohmilch herrliche, goldgelbe Butter- Mödeli fabriziert, darf diese Köstlichkeiten nicht verkaufen. Sie entsprechen nicht der ge setzlichen Lebensmittelnorm - schmecken aber tausendmal besser als eine solche.
HEUTE LEIDEN KINDER AN JEDER ART VON ALLERGIE. AUCH ERWACHSENE KLAGEN ÜBER UNVERTRÄGLICH KEITEN. NUR WIR ALTEN HALTEN EISERN DURCH - DIE SANDKUCHEN UND REGENWÜRMER HABEN UNS IMMUN GEMACHT!
Da kommen mir die Markt hallen in Kairo, Mumbai oder Sansibar in den Sinn: Ratten jagen um deine Füsse. Über abgehackten Schafsköpfen surrt ein Bataillon von Fliegen. Und jeder ist glücklich, wenn er sich etwas kaufen kann. Denn viele Menschen haben kein Geld für Nahrung. Sie haben auch kein Bauchgrimmen. Und sie haben keine Unverträglichkeiten.
Wenn sie Bauchschmerzen haben, dann einfach nur vor Hunger.
Daran stirbt alle drei Sekunden ein Mensch.
UND WIR BESCHÄFTIGEN 500000 BEAMTE IN EUROPA, DIE ÜBER WACHEN, DASS UNSERE NAHRUNG NACH NORM PRODUZIERT WIRD!
Ich weiss nicht, ob die Zahl stimmt.
Aber ich weiss, dass dies krank ist.