Innocent werkelt seit Tagen. Ach was, seit Wochen.
Für einmal wirft er das Geld zum Fenster hinaus. Und bohrt schon wieder ein Loch.
WENN ER NICHT SO EINE WUNDERBARE SEELE WÄRE, WÜRDE ICH SAGEN: DIESE SITUATION IST BOHREND.
Aber der gute Kerl tut wirklich alles, um mir das Leben im Rollstuhl und mit Stöcken zu erleichtern: Unsere Stube wurde leer gefegt und rollstuhlfreundlich gestaltet.
Schwellen wurden weggesägt. Die Toilette wurde gesprengt. Und verbreitert. Die Schüssel fährt auf Knopfdruck rauf und runter.
Ich liftle auf dem Thron - DAS IST LEBENSQUALITÄT OHNE VIEL ENERGIE- VERBRAUCH.
Es gibt auf Knopfdruck nun auch Röhrchen, die warmes Wasser verspritzen, Luft rausblasen und das Feuchttüchlein an Computerfingern führen.
ABER HALLO - DA HOCKST DU STUNDENLANG AM STILLEN ORT. UND ES IST IMMER NOCH UNTERHALTSAMER ALS DAS LAUTE EINER COMEDY-SENDUNG AUF SRF 1.
Seit Innocent dieses Einkaufscenter für kranke, behinderte und bettlägerige Menschen entdeckt hat, nennen sie ihn dort beim Vornamen. Er hat bereits die goldene Kunden nadel angepinnt bekommen.
In mein Bett wurde etwas eingebaut, das die Matratze wie ein Harassenstapler hochzurren kann: «...damit du den Handgriff besser erreichst, Pumperl!»
Eigentlich bräuchte ich mich gar nicht hochheben zu lassen. Innocent hat bereits sechs Handgriffe in verschiedenen Höhen rund um mich in die Mauer gerammt - dazu drei Haltegriffe links an der Bettwand. Und eine Barre rechts davon.
Mein Schlafzimmer ähnelt einer Turnhalle der 50er-Jahre, wo arme Buben die Klettersprossen hinaufgejagt wurden.
Hier ist es keine Kletterwand. Hier sind es zwei Stützen, an denen ich mich hochhangeln und wenn möglich ein bisschen turnen soll.
Mein fitter Vetter Tom zeigt mir jeden Tag, welche physiotherapeutischen Bewegungen wichtig sind, dass meine ein gegipsten Beinmuskeln nicht abschlaffen: «Die werden sonst so welk wie die Brüste von Tante Milly. Natürlich kannst du dich noch nicht gross be wegen - aber du kannst ein bisschen die Ferse nach oben ziehen... die Zehen spreizen... und dann mit dem Fuss leicht kreisen, als müsstest du ein Teiglein anrühren...»
Wie gesagt: Er hat den Master in Physiotherapie gemacht. Und n i c h t im Kochen. Tom hat noch nie ein Teiglein angerührt. Und so glaubt er noch immer, dass die Menschen die Saucen mit den Zehen rühren. Ist ihm eh pumpegal. Er verpflegt sich vegan.
NOCH FRAGEN?!
Jetzt also: «Es ist wichtig, dass du alle Muskeln trainierst. A L L E - DU SCHLAFFSACK! Du sollst dich später einmal an deinen kräftigen Händen hochziehen können nicht umsonst hat der liebe Gott dir Finger wie Blutwürste geschenkt... und deine fetten Arme sind Gold wert, weil sie mühelos dein Gewicht auf beiden Stöcken tragen können.»
SO FIES! Ich habe doch keine fetten Arme. Nur ein bisschen pummelig...
Meinem 85-jährigen Krankenpfleger Innocent werden klare Orders durchgegeben: «Du musst schauen, dass er die Arme auch wirklich trainiert... UND DIESE STÄHLT!»
So kommt es, dass wir im Esszimmer statt des alten Nussbaumtischs einen neuen Rundlauf haben. Der Arbeitsaufwand dauerte drei Tage. Zwei Mal musste der Plafond (nach dem immer wieder alles in sich zusammengestürzt war und der Hund aus der Oberwohnung direkt durch die Decke in die Hortensienvase fiel) neu gestützt werden!
O.K. DAS TÖNT JETZT NACH ETWAS AUFWAND. Aber hallo - meine Oberarme sind heute wirklich perfekt!
Kopfzerbrechen machte die Anschaffung eines Rollstuhls. Die Freunde im Materialien-Shop «für unsere rollenden Kranken» versprachen Innocent die Platin-Kundenkarte, falls er den Stuhl nicht nur mieten, sondern gleich kaufen wolle.
Als Geschenk haben sie ihm ein Rollgestell für Infusionsbeutel sowie eine Pissflasche aus Plastik (Marke: Urinella) in Aussicht gestellt.
Dann hat mein Freund die elektrisch getriebenen Modelle entdeckt.
DA WAR KEIN BREMSEN MEHR! Den Schutzhelm dazu haben sie ihm geschenkt.
Das Schöne aber am Kranksein sind die Besucher. Sie schleppen Torten, Schnittchen und Pralinen an.
UND WENN DAS SO WEITERGEHT, WIRD BALD EINE DRITTE DECKE ÜBER DEM RUNDLAUF EINSTÜRZEN!
Auf der Strasse werde ich von freundlichen Menschen an gesprochen: «Was ist denn passiert dürfen wir rasch ein Selfie ?»
Sie legen ihren Kopf auf mein Gipsbein. Und posten das Ganze als witziges Bonmot: «Gips stützt Grips!»
Max, mein treuer Pfleger und Stuhlroller aus Rom kapiert natürlich immer nur Bahnhof. Wie ein allzu vertrauensseliger Baschter wedelt er allen Menschen, die uns zu Kuchen einladen, entgegen.
Er strahlt sie mit den einzigen deutschen Vokabeln, die er dank der Kanzlerin drauf hat, an: «WIR SCHAFFEN DAS!»
«Es braucht eben Geduld », hält mein fitter Vetter das Wort zum Tag. Und frisst mir die Pralinen weg.
Ich hänge mich leicht melancholisch an den Rundlauf: Das ist ab heute wohl mein Lauf der Zeit ?
«Wir schaffen das!» - bellt Max vom Elektro-Thron.
Und lässt sich drei Mal rauf- und runterfahren...