Das Edelweiss

Vera schaute auf die Frau im Krankenbett. Sie fühlte, wie ihr die Tränen hochkamen. Vera war nahe am Wasser gebaut.

DAS WAR IHRE MUTTER NIE GEWESEN!

Die lag jetzt hier. Dörr. Mit feinen Schläuchlein am Arm.

Lotte schaute ihre Tochter streng an: «Stier nicht so. Wir beissen alle mal ins Gras. Gib mir das Kissen!» Vera schob ihr hastig das Kissen unter: «Nicht weinen... nicht weinen...», befahl sie sich in Panik. Weinen war bei ihrer Mutter stets strengstens verboten gewesen.

Lotte hatte Vera alleine grossgezogen. Ihr Mann verliess Bett und Herd nach drei Jahren Ehe: «Da hätte ich auch eine Tiefkühltruhe heiraten können...», sagte er dem Scheidungsanwalt.

Lotte nahm es gleichgültig. Vera nicht. Sie hätte gerne einen Vater gehabt.

Lotte führte ihre Tochter mit eisernem Griff durchs Leben: «Disziplin ist alles, Lotte!», hatte sie gesagt.

Vera buhlte um eine Umarmung ihrer Mutter. Sie buhlte um ein leises Lächeln. Aber alle Lächeln auf Lottes Gesicht waren irgendwann einmal erloschen - wie die Marien-Kerzen in der Kirche, wenn der Wunsch vorbei war.

Es war in Interlaken, als Vera das Edelweiss sah. Die Mutter hatte zum Thema «Sucht - und jetzt?» an einer Tagung zu referieren. Sie wollte nicht, dass Vera im Saal sass: «Schau dir die Läden an!»

Vera schlenderte also weg vom grossen Hotel. In einer alten Boutique lag ein geschnitztes Edelweiss. «Handarbeit», lächelte die Verkäuferin, «die Mama wird sich freuen...»

Das Edelweiss war das Schönste, das Vera je gesehen hatte.

DAS KIND WAR ÜBERZEUGT, DASS DIESE BLUME SEINER MUTTER DAS LÄCHELN ZURÜCKBRINGEN KÖNNTE.

«Kann ich die Enziane sehen..?», sagte Vera zur Verkäuferin. Die ging zum Schaufenster. Und bettete die blauen Blüten vor das Mädchen hin. «Ich überlegs mir», sagte es. Und hatte das Edelweiss in der Tasche.

Als Lotte im «Victoria» auschecken wollte, nahm sie jemand am Arm: «Es geht um ihre Tochter, gute Frau...» Auf der Heimfahrt sprach Lotte nur ein Wort. «Weshalb?» Vera spürte Tränen aufsteigen: «...Ich wollte, dass die Blume dich zum Lächeln bringt...»

Das war vor vielen, vielen Jahren gewesen. Nun lag Lotte im Spital. Der Arzt gab ihr noch drei Wochen. Die Kranke stierte zur Decke: «Ich war eine schlechte Mutter, Vera zu fest mit mir selber beschäftigt. Komm her!» Sie öffnete ihr graues Strickjäckchen. Auf dem Nachthemd schimmerte das geschnitzte Edelweiss: «Es sind die zwei schönsten Dinge, die mir das Leben geschenkt hat - dich. Und das Edelweiss... Und wenn du nicht sofort mit dieser Flennerei aufhörst, schicke ich dich hinaus!» Und zum ersten Mal entdeckte Vera auf den schmalen Lippen ein leises Lächeln...

Freitag, 2. August 2019