Die Amsel

Max öffnete die Wohnungstür. Alles war anders. Still. Gab es eine Steigerung für Stille?

ER VERMISSTE LIZ VOM ERSTEN MOMENT AN - IHR PERLENDES LACHEN. IHRE FRÖHLICHEN AUGEN. IHRE ZÄRTLICHKEIT.

Gut. Das Lachen war mit den Monaten einem Lächeln gewichen. Und die Augen hatten durch ihn hindurch geschaut - als würden sie irgendwo etwas suchen. Später, wenn er ihre Hände nahm, zog sie diese erschrocken zurück: «Bitte nicht - ich kenne Sie nicht, mein Herr!»

Die Freunde, die Kinder - alle hatten ihn seit Monaten gelöchert: «Du machst dich kaputt lass los du hilfst ihr nicht, wenn du zusammenbrichst!» Nachts war sie herumgegeistert. Hatte Panik-Attacken: «Wo bin ich da ist jemand ich kenne den nicht!»

Max konnte keine Nacht mehr durchschlafen. «In guten wie in schlechten Zeiten », hatte er den Kindern erklärt. Und: «Wir waren immer füreinander da.»

Sie hatten sich in der Oper kennen gelernt. «Zauberflöte». Liz hatte im Foyer ihren Orangensaft über sein Hemd gegossen. Und er hatte nur gelacht: «Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen » So hatte alles begonnen. Sie wäre gerne Sängerin geworden. Für die Bühne reichte es nicht. Aber für den Bach-Chor. Und für den Heiligen Abend, wenn sie das «Stille Nacht» anstimmte. Ihre Stimme war hell. «Meine kleine Amsel », hatte Max immer gesagt.

Sie sang mit den Kindern - und wenn sie mit Max im kleinen Garten auf der Bank sass, sangen stets auch Amseln in der Tanne. Die Vögel liebten den Baum. Von früh bis spät gaben sie ein Konzert. - «Der Gesang dieser Amsel ist schöner als jeder Belcanto », hatte Liz einmal zu ihm gesagt.

Sie wurde vergesslich. «Das Alter », lachte sie. Sie vergass die Einkaufs listen. Und kam immer mit Wasch pulver nach Hause. Sie hatten jetzt 20 Boxen davon.

Sie vergass zu kochen, vergass die Namen der Freunde Es war, als würde ein Fluss sie aus dem Alltag wegtragen.

Sie lächelte noch, als die Ärztin mit ihr eine Gedächtnisprüfung anstellte. Doch mit der Zeit erlosch das Lächeln - es sank wie die Sonne am Abend in die Nacht.

Das Seltsame: Die Amseln im Garten verstummten mit ihr. Sie sangen nicht mehr - als ob sie Liz in ihrer neuen Welt nicht stören wollten

Max brachte sie in das Heim. Er fühlte sich mies. Sass im Garten. Die Amseln schwiegen. Vor fünf Tagen hatte dann das Heim angerufen: «Es ist so weit » Er jagte an ihr Bett. Blieb in der letzten Stunde bei ihr. Hoffte, das Lächeln käme noch einmal übers Meer zurück.

Es kam nicht mehr.

Zu Hause nun: diese Stille.

Er setzt sich auf die Gartenbank. Und denkt an Liz. Die Stille wird plötzlich unterbrochen: Eine Amsel singt.

Nur für ihn.

Freitag, 26. Juli 2019