SCHOCK!
Die Schaufenster der alten Römer Passamaneria waren leer. Staub lag hinter den schmutzigen Scheiben - der Staub, zu dem wir alle mal werden.
Ich war auf dem Morgen spaziergang zum «Campo», um Walderdbeeren zu kaufen. Da habe ich einen Bogen durch «mein» altes Quartier ge schlagen. Manchmal braucht der Mensch einen Schluck Nostalgie wie den Frühstücks- Cappuccino - und die Via del Orso heisst für mich «ERSTE RÖMER ERINNERUNGEN».
Es sind mehr als 50 Jahre her. Innocent und ich stiegen hier in einer uralten Pension ab. Ich machte die grosse Szene. Es half nichts. Schon zu jener Jugendzeit hiess das Wort zum Tag: «Wir müssen jede Lire umdrehen!» Damals waren es noch Lire. Und damals war ich auch jungdumm genug, um auf Innocents Gejammer reinzufallen... Jedenfalls: Ich schleppte zeternd die Koffer durch einen speckigen Sommervorhang an die Réception. Eine Tür gab es im Sommer keine. AUSGEHÄNGT. UND DAS HAT ES MIR DANN AUCH. ABER WIE: «Das ist ein Puff - nicht mit dem schönsten Kind meiner Mutter!»
Innocent eisig: «Weshalb sind Trämlersbalgen stets solche Snobs!»
NICHTS MEHR ZU SAGEN!
Natürlich buckelten wir alles selber in den 4. Stock. KEINE HAUSDIENER. KEIN LIFT. DIE EINZIGEN, DIE UNS FREUNDLICH ENTGEGENLÄCHELTEN, WAREN DIE WANZEN IN DEN AUSGERITTENEN MATRATZEN.
Na gut. Ich habs überlebt. Und heute ist die Bude ein schickes Boutique-Hotel - mit Frühstück auf der Dachterrasse. Damals tauchten die Gäste das Cornetto in einem feuchten Keller an wackligen Tischen. Der Kaffee war wie alle italienischen Hotel-Kaffees (zu jener Zeit): MUCKEFUCK VOM ÄRGSTEN - NICHT ZU GENIESSEN.
Nach einer grossen Szene im Hotelzimmer mit der Toilette auf dem Flur (die lag natürlich neben unserm düstern Verschlag, sodass man die ganze Nacht durch das Blubbern der undichten Spülung wachgehalten wurde) -, nachdem ich mich also ausgetobt hatte, ging ich ab auf die Strasse. Und entdeckte als Erstes: LA PASSAMANERIA.
Der Laden hatte vier Schaufenster. Und zeigte meine Welt: Spitzen... Perlschnüre... gestickte Vorhänge... magisch zogen mich die goldenen Fäden ins Innere. Eine alte Frau, sie hiess Signoroa Croccianelli, sass über einem Stickrahmen. Und stichelte drauflos, ohne mich zu beachten.
Die Alte trug eine pechschwarze Perücke, die ihr etwas zu stark in die Stirne gerutscht war. Ich fühlte mich wie in einem Glasperlenspiel. Ich liess meine Finger über Kordeln, Perlschnüre und zarten Quasten tanzen, bis die Alte endlich hochschaute: «Non toccare, Signorino...»
Signorino war so ein alter tümelndes Wort der Römer für jemanden, den sie nicht richtig einordnen konnten: Hat er schon das Jawort gegeben (SIGNORE), oder bleibt er für immer eine Jungfrau (CHECCA)
Jedenfalls kam ich mit einer Tonne Spitzen aus dem Laden zurück. Verschönerte damit das düstere Hotelloch. Und bin später immer wieder bei Signora Croccianelli aufgetaucht, um mich bei ihr für die Dekoration meines Messestandes mit goldenen Zotteln, Vorhangquasten und Perlenstickereien einzudecken.
Das Köpfchen der alten Signora schrumpfte jedes Jahr ein bisschen mehr - und die schwarze Perücke drehte wild darauf herum, etwa wie diese jungen Hunde, die sich im Übermut in den eigenen Schwanz beissen wollen.
So. Dies alles ist wie ein Sturzbach an Erinnerungen in meinem Kopf explodiert, als ich vor dem «NEGOZIO» stand, das eine Maklerfirma auf einem windigen Karton jetzt «a vendere» ausschreibt.
ICH MUSSTE AUCH AN MEINE KINDERJAHRE DENKEN, ALS ICH SELBER ZUR NADEL UND DEM STICKGARN GEGRIFFEN HATTE.
Tante Gertrude zeigte mir schon sehr früh, was ein Kreuzstich ist. In der Primarschule war ich bereits beim Blattstich angekommen.
Ich genoss es, in der Familien- Damenrunde zu sitzen und mit den Frauen zu sticheln, bis mein Vater mit einem Megano-Kasten heimkam. Und polterte: «Das ist doch Weiberzeug! Ich zeige dir jetzt, wie man mit Schrauben und Eisen umgeht...»
Der Megano-Kasten kam ungebraucht zum ebenfalls nie benutzten Fussball. Und mein Vater bekam von mir auf Weihnachten ein Taschentuch, in das ich einen bunten Hahn (Kreuz- und Blattstich) eingestickt hatte.
ER PACKTE DAS GESCHENK AUS. SAGTE «NA JA». UND ES WARD NIE MEHR GESEHEN.
Nein. So stimmt das eben nicht. Als seine damalige Freundin Molly mich in Italien alarmierte: «Du solltest heimkommen - ich glaube, es ist so weit...», als ich ihn dann im Spitalbett liegen und so hilflos sah, da habe ich Rotz und Tränen geheult.
Er sagte nichts. Schob mir aber ein weisses Taschentuch zu - der gestickte Hahn war nur noch zu ahnen. Er lächelte etwas unbeholfen: «Damals habe ich mir gesagt: Er ist halt so ich habe das Taschentuch eingesteckt. Und es immer auf mir getragen. Du warst so bei mir, auch wenn du weit weg warst aber jetzt, wo du hier sitzt, brauche ich es nicht mehr...» Drei Tage später ist er gestorben.
All dies ging mir durch den Kopf, als ich Signora Croccianellis verwaisten Laden sah - und den Staub hinter dem Glas, der bald einmal alle Erinnerungen zudecken wird.