Sie schrie. Sie tobte: «IHR WICHSER UND HURENSÖHNE!»
Keiner hörte hin. Jeder kannte die rote Lola. Die Leute im Quartier nahmen die Ausbrüche mit demselben Schulterzucken hin wie Schmierereien an den Häusern. Oder Hundekegel auf dem Trottoir.
IRGENDWANN MOCHTE KEINER MEHR MOTZEN.
Und wenn, wurde er von Postmann Sauber in den Senkel gestellt: «Man kann Leute nicht einsperren, nur weil sie einen an der Waffel haben!»
Es war ein ruhiges Quartier gewesen.
DOCH DANN KAM LOLA: fleckiger, rostfarbener Pullover, der ihr bis zu den Knien ging. Lindengrüne Jogginghose. Dreckverkrustete Füsse in Plastiksandalen. Und der Kopf: rot aufgedunsen mit einem Wusch kupferner Haare - die «rote Lola» eben.
LOLA KEIFTE SICH GLEICH MAL DURCH DIE STRASSE.
Sie liess sich über die hohen Politiker aus («alles Maffia»), über den reservierten Lehrer Fingerli von Haus Nummer 17 («so ein arrogantes Arschloch») und über die Frau des reformierten Pfarrers im 21 («schwanzgeile Schlampe!»).
Manchmal jaulte Lola ohne Worte. Einfach ein Schreien - unterbrochen von gutturalem Stöhnen. Und dann ein hysterisches Kreischen, dem höchstens die Kettensäge der Schreinerei Hobler Paroli bieten konnte.
LOLA HATTE KEINE GESCHICHTE. NUR DAS UNKONTROLLIERTE BRÜLLEN.
Man munkelte, dass sie als Kind ausgesetzt wurde. Andere sagten, sie sei die Tochter eines Bankiers. DAS ÜBLICHE GESCHWÄTZ. Fake News sind immer spannender als trockene Facts.
AN JENEM TAG, ALS DIE SACHE MIT DEM MÄDCHEN PASSIERTE, WAR LOLA BESONDERS SCHLECHT DRAUF GEWESEN.
Früh hatte sie das Quartier mit ihren Schreien geweckt. Sie tigerte durch die Strasse und brüllte Unverständliches.
Dann sah sie das kleine Kind auf der Fensterbank - ein Mädchen im Pyjama. Es trug einen Plüschbären im Arm. Und rappelte sich am Fenster hoch.
LOLA SCHRIE. KREISCHTE.
Das Mädchen streckte den Bären von sich weg. Es wollte ihn Lola zeigen.
Deren Stimme überschlug sich jetzt. Dann war es plötzlich still in der Strasse. Totenstill. «Na endlich!», murmelte Lehrer Fingerli vor seinem Frühstücksei.
Die Polizei fand das Kind auf dem kleinen Boden im Vorgarten. Der Bär lag daneben.
Lola aber sass stumm da. Ihre Schreie waren jetzt in den Augen. Im Kopf hörte sie das dumpfe Aufprallen des Mädchenkörpers.
Man hat nie mehr was von Lola gehört. Auch keine Schreie.
Es wurde wieder ein stilles Wohnquartier. Ohne Geschichten.