Von Café complet und schaukelnden Prothesen

Illustration: Rebekka Heeb

«Du hast doch einen am Körbchen!» - Innocent schaute bestürzt auf den grossen Tisch.

Angesagt waren zwölf Gäste. Angesagt war auch Sparsamkeit. HIER GING DIE SPARSAMKEIT INNOCENT ETWAS ZU WEIT

«Was soll das? - Kaffeetassen?! ICH HABE DIE MILITÄRBANDE ZU EINEM NACHTESSEN EINGELADEN »

Tut er immer. Die Gäste sind die Fliegerstaffel aus der Zeit, als Männer noch Krieg spielen durften. Der grosse Kampf ist längst vorbei. Aber Innocents Militärkameraden tun noch immer so, als ob sie das Land retten müssten

Als sie den «Aff» (ich glaube, das Rüstzeug mit der Uniform heisst so? Ich kann mich täuschen) - als die Sache mit dem Affen also vorbei war und sie bei einem letzten «Antreten» mit tränenden Augen noch einmal den Hampelmann machen mussten, da schworen sie: «WIR BLEIBEN EINANDER TREU!»

Es ist die andere Form der Ehe!

Einmal pro Jahr treffen sie sich also zu einem Erinnerungsessen. Der alte Krieg wird neu aufgerollt. Sie schwadronieren von Bombenangriffen, die es nur in ihrer Fantasie gab.

Und jedes Mal schwärmen sie von einer Wirtin im Emmental, die «Rösli» hiess und so viel Holz vor dem Haus zeigte, dass man hätte glauben können, sie habe zwei Wassermelonen geschultert.

GESCHULTERT IST HIER DAS FALSCHE BILD.

Geschultert wäre hinten. Und Röslis Melonen strotzten vorne.

Also: Bis anhin gab es ein grosses Spargelessen.

Aber da die Fasern der jungen Stangen den alten Kämpfern in den Prothesen hängen blieben, zupften die wild in ihren welken Mäulern herum. Da kamen die Raffeln bedenklich ins Schaukeln.

UND DAS BRAUCHE ICH JETZT WIRKLICH NICHT MEHR!

Deshalb: Kaffee. Weiche Brötchen. Und dreierlei Konfitüren.

MAN SAGT DEM CAFE COMPLET.

Das Tischtuch ist handgeklöppelte Spitze aus Sardinien. Gut. Es hat einige gelbe Flecken vom Blütenstaub eines Lilienstrausses. Man sollte nie Lilien auf einen Esstisch bringen. Erstens überduften sie jedes Aromat. Und zweitens sind ihre rotgelblichen Pollen schreiendes Gift für die Wäsche: D I E S E FLECKEN BEKOMMST DU NIE WIEDER RAUS!

Natürlich musste mir Innocent damals so einen verpissten Lilienstrauss heimbringen.

Die Blumen waren schon leicht hinüber, da sie bereits 14 Tage das Grab seiner lieben Eltern geschmückt hatten.

Ich köpfte die Blüten von den matschen Stängeln. Drapierte sie in eine Lalique-Schale. Und den Rest kennt ihr jetzt. Sie stäubten das Tischtuch mit ihrem gelben Dreck so voll, dass ich heute all diese Flecken mit Dekorationsentchen kaschieren muss. So.

Lets go back to the coffeetable! Die Tassen zeigen immerhin die Schwerter von Meissen. JAWOHL: M E I S S E N. WENN AUCH NUR ZWEITE WAHL!

Die Brötchen sind n i c h t kross gebacken, sondern mein Bäckermeister Hummer lässt sie für die alten Porzellan raffeln teigig weich wie Marshmallows. Überdies ist eine der drei Konfitüren hausgemacht (Quitten).

ABER HALLO!

ES GIBT STERNE-BEIZEN, DA SCHAUFELST DU MIESER!

Überhaupt: Café complet vermisse ich. TOTAL!

Ich biete da ein Remake. Und die Menschheit sollte mir dankbar sein.

Zu meiner Kinderzeit gab es i m m e r Café complet zum Nachtessen. Natürlich keine Weggli von Hummer. Sondern Basler Brot vom Tag vorher. Und einen Kaffee, den meine Mutter aus bräunlichem Pulver von Nestlé anrührte.

NICHT ZU TRINKEN.

Aber von den Yankees Und deshalb: ENORM CHIC!

Meine Grossmutter schrie nach Kirsch. Und das Kind nach Coca-Cola.

Nur Tante Gertrude seufzte verklärt: «Ach Lotti - es geht einfach nichts über ein gutes Café complet!».

Es gab zweierlei Konfitüren - Quitten und Zwetschgen.

Zwetschgen wollte niemand.

In einem Glasschäleli lag ein Bälleli Butter, den wir nie so nennen durften («Wenn du das nächste Mal nicht Angge sagst, isst du das Brot trocken, kapiert!») - in der grossen Dose gab es Zucker und die Geschichte dazu, wie er im Krieg rar gewesen sei.

Ich machte mir Zucker schnitten. Und spülte sie mit Cola.

Die Kembserweg-Omi tauchte Brotmocken in ihren Kirschcafé. Und zog die aufgeweichten Fötzel schlürfend rein. Mutter schickte ihr einen Blick der Giftklasse 5.

Und die Omi zuckte entschuldigend die müden Schultern: «Ohne Schlürfen sind die Bröggeli nur halber Genuss, Lotti »

Und das muss ich hier diesen alten Militärknackern nun doch zugutehalten: Sie sahen meinen Café-complet-Tisch. Nahmen Stellung an. Salutierten. Und zeigten ein strahlendes Lachen auf ihren Raffeln: «DAS IST EINE GROSSARTIGE IDEE! CAFÉ COMPLET HATTEN WIR SCHON JAHRE NICHT MEHR »

Brauche wohl nicht zu erwähnen, dass sie das Brot in Mocken schnitten.

Im Kaffee eintauchten.

Und genüsslich drauflosschlürften.

MEIN TISCHTUCH IST JETZT ENDGÜLTIG ZUR SAU

Dienstag, 23. April 2019