Alex und der Verzicht auf die Crèmeschnitte

Illustration: Rebekka Heeb

Alex hat den Oscar gewonnen.

Gut. Mag ich ihm gönnen. Obwohl Alex alles andere ist als der Oscar-Typ.

Jedenfalls wirkte er in seinem dunklen Tuxedo etwas schräg. Deplatziert – oder sagen wir’s mal so: wie eine Schachtel hart gekochter Ostereier im Klausensack.

Alex hat also mit seinem «Free Solo» Furore gemacht.

Schon früh kletterte er alleine. Er sagt, es sei die Schüchternheit gewesen, die ihn zum «Einzelgänger» gemacht habe: «Ich hatte einfach nicht den Mumm, andere Bergsteiger-Gruppen zu fragen, ob ich mit ihnen gehen dürfe… Ich war schon als Kind so. Hatte da auch nicht den Mut, andere Kinder zu bitten, mich mitspielen zu lassen…»

Ein einsames Herz also.

Aber ich finde, das ist noch lange kein Grund, mutterseelenallein steile Wände hinaufzujagen. Dies ungesichert. Ohne Seil und doppelten Boden. ABER HALLO – was ist, wenn du niesen musst? Wer streckt dir da ein Taschentuch hin?

Und wer ist neben dir, zu dem du sagen kannst: «Schau – ein Edelweiss! Ist das nicht wunderbar…»

EINFACH ALLEINGANG.

DEN TOD IM NACKEN.

DAS KITZELN IM BAUCH.

UND DEN BLICK IMMER AUF DEN FELS GERICHTET.

Irgendwie ist es auch typisch für die heutige Generation – die blickt einfach immer aufs Handy. Auch im Alleingang. Auch abgeschottet. Und auch nur mit sich beschäftigt.

Wenn ich mitunter im Sechsertram fahre, fühle ich mich von lauter solchen Alexs umgeben.

Jeder einsam.

Jeder auf seinem Eigentrip. Jeder Blick auf die Handywand gerichtet.

Und keiner sieht das Edelweiss. Ich meine das natürlich im übertragenen Sinne – es gibt schliesslich kein Edelweiss im Sechsertram.

SOWEIT DAS WORT ZUM TAG!

Mein Vater war bergsüchtig.

Er ging ebenfalls sämtliche Felsen hoch – und hat damit seine nächste Umgebung die Wände raufjagen lassen. Allen voran meine Mutter. Und das kleine Kind, das unter der Angst der Mutter litt.

Mein Vater war damals etwa im Alter von Alex. So um 34. Er hatte eine Freundin – eine Zahnärztin, die mit ihm kletterte.

Beth lud uns stets in ihr Chalet nach Grindelwald ein. Dann zog sie mit Vater los – beide mit roten Socken mit Zopfmuster. Kuhdreckfarbene Knickerbocker als Berghosen. Und ein Rucksack, gross wie eine Hundehütte.

Der Proviant bestand aus Maggiwürfeln. Und einer Blechflasche mit Tee. Der Maggiwürfel war gegen den Salzverlust. Der Rest: Askese.

«Weshalb tun die sich so etwas an?» – fragten Mutters Freundinnen. Und dann leicht spitz: «Diese Beth sieht aus wie eine vergessene Mostbirne … Hans hat doch sonst keinen schlechten Geschmack!»

Bei Beth ging es jedoch nicht um Schäferstündchen. Mein Vater liebte den Nervenkitzel mit ihr – diese seltsame Abenteuersehnsucht, in der stets eine Prise Tod lauert.

Als die beiden an einem Nachtessen eröffneten, sie hätten sich entschlossen, durch die Eigernordwand zu gehen, war eisige Stille.

Dann erhob sich meine Mutter vom Tisch. Sie fixierte meinen Vater: «Das ist schön – aber dann gehst du als geschiedener Mann. Ich toleriere alle deine Eskapaden … deine Freundinnen… dein eigenes Leben. Aber ich toleriere nicht, dass du das Leben aus Abenteuerlust aufs Spiel setzt, Hans. Du bist Vater. Du hast Familie. Und du hast Verantwortung…»

An all dies musste ich denken, als ich vernahm, dass Alex Honnold für sein «Free Solo» an der Wand des El Capitan das goldene Hollywood-Männchen einheimsen konnte.

Das Männchen machte sich in seiner Hand so falsch, als würde er ein gerupftes Huhn halten. Besser wäre «der goldene Eispickel» gewesen. Aber den «Piolet d’Or» hatte er ja schon…

Ich bewundere Alex für seine guten Taten. Er macht als Freeclimber gutes Geld. Denn – und das unterscheidet ihn von vielen anderen Hollywood-Stars – er lässt die Hälfte des Einkommens einer Stiftung, der Honnold Foundation, zufliessen. Und die tut Wunderbares im Zeichen für eine bessere Umwelt.

Sie hat beispielsweise Solaranlagen auf den Lehmdächern in Dörfern von Angola errichtet.

Ich bewundere Alex auch für seinen «Way of Life» – keine 40-Zimmer-Villa mit Nierenform-Pool in Beverly Hills. Er lebt in einem Wohnwagen. Ganz einfach, weil dies für ihn praktisch ist. Und er so von Bergwand zu Bergwand ziehen und direkt davor campieren kann.

Auf ein «Free Solo» bereitet er sich wochenlang vor. Wände rauf. Wände runter. Dazu vegane Kost – nur: Eier isst er. Eier braucht er. Denn Eier h a t einer, wenn er ohne Sicherungen solche Wände besteigen will.

Allerdings: …die schlimmsten Versuchungen sind dann immer die Desserts. Ich liebe Süsses. Aber vor einer meiner Touren verzichte ich – ich will nicht in der Wand sein und denken: Oh, hätte ich doch nie diese Crèmeschnitte gegessen!»

Er verzichtet vorher auch auf Sex. Und auf Zweisamkeit.

Seine Freundin musste zwei Wochen vor dem nun Oscar-gekrönten «Free Solo» den Wohnwagen verlassen. Nach dem Dreh soll er sich dann nach Alaska zurückgezogen haben. Wieder alleine in seinem Camper… nur Kopfhörer dabei. Und irgendwelche Songs darin…

Als der beste Freund meines Vaters vor dessen Augen zu Tode stürzte, war dies nicht etwa an einer spektakulären Wand. Es war an einem Übungsfelsen im Pelzmühletal.

Aber das Seil riss.

Mein Vater stieg ungesichert wie Alex 30 Meter zu seinem Freund hinunter, um ihm zu helfen. Es war aber vorbei. Und Vater kletterte «free solo» zurück.

Zu Hause weinte er bei meiner Mutter: «Es ist aus, Lotti – ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr… ICH WERDE NIE MEHR AN EINE FELSWAND GEHEN!»

Vier Wochen später war er wieder am Berg.

Es ist eine Sucht.

Und ich versuche bis heute zu ergründen: Wo liegt die Faszination, um auf ein Stück Crèmeschnitte zu verzichten? Und alles nur, um eine Wand raufjagen zu können…

Dienstag, 26. März 2019