Vom alten Mantel und der neuen Sprache Napoleons

Illustration: Rebekka Heeb

«Wo ist mein Mantel?»

Er nervt. Er besitzt acht verschiedene Mäntel.

Einige sind noch aus der Gründerzeit. Aber: «Die tuns immer noch!»

Ich habe ihm vor drei Jahren auf Weihnachten einen wunderbaren Kamelhaar-Mantel geschenkt.

Ok – Ihr Grünnasen, ich weiss, dass doppelhöckerige Tiere geschützt sind. Aber für Innocent ist mir alles recht – auch ein rasiertes Kamel!

A B E R: DER MANTEL HÄNGT NOCH AM BÜGEL. UND DAS PREISETIKETT DARAN IST UNVERSEHRT!

«Du könntest doch einmal den Neuen tragen!»

Lakonische Antwort: «Den spare ich mir fürs Alter auf!»

Er ist 84. Und auch an seinem 90sten wird das Preisschild noch am Mantel hängen!

Jetzt etwas lauter: «WO ZUM TEUFEL IST MEIN SCHÖNER MUMMEL?!»

Er nennt den Mantel nach seiner «Mummi», die ihn mit ihm ausgesucht hat. Damals gabs noch den Kleider Frey. Und die Mummi ging mit ihm dort einkaufen, weil der Bub einen Ballon bekam.

KÖNNT IHR EUCH JETZT DEN MUMMEL VORSTELLEN?! SEINE MUTTER WAR NOCH NICHT EINMAL IM KLIMAKTERIUM. UND ER EBEN ERST KONFIRMIERT.

Mit den Jahrzehnten hat der schwarze «Mummel» nicht nur Innocent viel Freude bereitet. Sondern auch Tonnen von Schaben, sogenannten Fressmotten, die sich an ihm gütlich taten.

Anfangs wurden die durchgefressenen Stellen schwarz kunstgestopft. Heute stopft keiner mehr. Schon gar nicht schwarz und «kunst». Heute stopft die Gaunerwelt vielmehr Schwarzgeld in Kunst. Aber: ein anderes Thema!

Mit der Zeit hatte «Mummel» mehr Flickstellen als der heutige BVB-Betrieb. Man konnte seinen Originalzustand nur noch ahnen …

Natürlich weiss ich, wo der Mantel ist. «IN DER REINIGUNG...», lüge ich.

Wenn Innocent selber einmal unsere Kleider in die Reinigung tragen würde, wüsste er, dass dies unmöglich sein kann. Denn schon vor einem Jahrzehnt hat die Tante am Tresen mir die rote Karte gezeigt: «Diesen Putzfummel können wir nicht nehmen... der fällt in tausend Teile!»

Ich habe ihn knurrend wieder heimgetragen. Und Innocent warf ihn weitere zehn Jahre an sich.

Da sein Umfang nicht mehr dem pubertierenden Knaben aus der Konfirmationszeit entsprach, explodierten die Knöpfe in alle Richtungen wie Popcorn im Topf. Annick musste Ersatz annähen. Sie fand in der Knopf-Büchse noch vier riesige, scharlachrote Mohnblumen-Buttons von Mummis Sommer-Deux-Pièces aus den verrückten Zwanzigern.

So ähnelte der Mummel jetzt eher einem Clownkleid als einem Mantel der einstigen Firma Kleider Frey.

Manchmal haben die Leute Innocent aber eine Zigarette oder auch schon mal ein Zweifrankenstück zugesteckt: «Sie armer Mann – es gibt doch Ergänzungsleistungen!»

Er nahm die zwei Franken mit einem brüchigen: «Vergelts Gott – aber die Übernachtung im Männerheim kostet f ü n f!»

Dann tankten die guten Menschen nochmals nach... und er kam mit strahlenden Augen nach Hause: «Der Mummel ist ein grossartiges Geschäft… hoffentlich darf die Mammi das auf Wolke 17 noch sehen...»

WOLKE?

Jeder, der den Hexenbesen kannte, weiss, dass sie ganz tief unten beim Höllenfeuer die Kohle schippt...

Um es kurz zu machen: Den Mummel gibts nicht mehr!

Als Innocent für drei Tage ein Seminar «Ein Leben mit dem Sudoku» besuchte, haben Annick und ich die Gelegenheit benutzt.

Wir benutzen sie immer, wenn er weg ist. Dann entsorgen wir auch den Fleischkäse, den er ganz hinten im Eiskasten in Klarsichtfolie eingeschweisst aufbewahrt. Und der nun bereits ins Grünliche läuft.

«On prend l’occasion et on le jette maintenant!» – soweit unsere Perle. Alles auf Französisch.

Annick lebt seit 40 Jahren hier. Sie redet keine Silbe deutsch. Wie alle Franzosen glaubt sie, dass die Welt aus Napoleon, bleu-blanc-rouge und Brigitte Bardot besteht.

BITTE – DIE ANDERN HABEN SICH DANACH ZU RICHTEN!

Natürlich hatte ich dann ein schlechtes Gewissen, als wir das Bruchstück in den «Sack für die lieben Bedürftigen der Dritten Welt» steckten. Ich meine, man verschenkt keinen gestopften, schwarzen Wollgräuel in ein Land, wo alles bunte Fummel schwingt. Und es nie kälter als 30 Grad im Schatten wird.

Aber ich griff erst ein, als Annick auch noch den Fleischkäse dazulegen wollte.

Innocent schaut mich nun misstrauisch an: «WO IST ER?» Ich kann zwar wunderbar auf Papier lügen. Aber wenn mir einer dabei in die Augen sieht, entdeckt er dort Ausrufezeichen.

«Ich sehe es Dir an – Du lügst.

Er ist nicht in der Reinigung!»

Und dann habe ich ihm die Sache mit dem Drittwelt-Sack gestanden: «...aber der Fleischkäse ist noch da!», versuchte ich den Schlag etwas abzudämpfen.

INNOCENT SAGTE KEIN WORT.

ER SATTELTE DIE GEHSTÖCKE.

UND KNALLTE DIE TÜRE.

«Qu’est-ce qu’il a dit?» – erschien Annick auf der Szene. Natürlich hatte sie hinter der Türe gelauscht. Ihre Ohren waren noch rot.

«Il veut des Paschtetli zum Znacht!», antwortete ich.

Und machte mich auf einen schwierigen Abend gefasst. STUMMFILM... SEUFZER... AUGENROLLEN – jeder, der einmal verheiratet war, weiss wovon ich rede... ABER NICHTS DA!

Innocent tauchte putzmunter zum Nachtessen auf. Schlimmer: Der Mummel baumelte um ihn herum.

«Ich habe ihnen einen Zehner gerieben... und diese netten Menschen von der Kleidersammlung haben mir den Mantel zurückgegeben. Nur die roten Knöpfe sind schon alle ab. Sie wollten den Mummel eben zu Lumpen auftrennen... Er reibt sich vergnügt die Hände: «Was gibts zum Znacht?»

«Im Kühlschrank hats noch Fleischkäse…», antwortete ich eisig.

Am andern Tag schüttelte Annick den Kopf: «Vous n’avez pas mangé les Paschtetli?»

«Il faut neue Knöpfe pour le vieux Mantel…» sage ich.

Dienstag, 5. Februar 2019