Fünf vor zwölf

Anni stierte in ihre Vitrine.

Es war ein altmodisches Buffet mit Glasfenster.

Es zeigte Momente ihrer letzten 80 Jahre.

Nun – Anni hatte ein einfaches Leben gelebt: Haushaltschule… Heirat… drei Töchter… der Höhepunkt war die goldene Hochzeit gewesen: vier Tage Venedig.

EINE PLASTIK-GONDEL ERINNERTE DARAN.

Hanni stierte noch immer auf den Platz neben der Gondel: Die Gold-Uhr von Max war weg.

IHR MANN HATTE DIE GOLDENE TASCHENUHR IN DIE EHE MITGEBRACHT. ES WAR EIN GESCHENK SEINES PATENONKELS ZUM 20. GEBURTSTAG GEWESEN!

Nie wäre Max ohne seine Uhr auf dem Tram losgefahren. Immer wieder hatte er sein Kleinod gestreichelt: «Sie zeigt mir jede Minute an, ob ich pünktlich an einer Station vorfahre… ob ich die Zeit genau einhalte.»

Nach seinem Tod hat sie den schmalen Ehering ihres Mannes und die Sackuhr in die Vitrine gelegt.

DER RING LAG NOCH HIER.

DIE UHR WAR VERSCHWUNDEN.

Anni atmete jetzt tief durch.

Nein. Sie konnte keine Polizei rufen. Sie kannte den Dieb: Nico – ihr Liebling und jüngster Enkel hatte das Gold versilbert. Vermutlich brauchte er wieder Mal dringend Stoff.

Nico dealte sich mit winzig kleinen Päckchen durch den Tag.

ABER MEISTENS WAR ER BLANK. UND LÖCHERTE DANN SEINE GROSSMUTTER: «Nur noch einmal, Omi – ich brauche den Stoff!»

NICO HING AN DER NADEL.

Vor zwei Tagen war sie hart geblieben: «Ich habe nur die Rente, Nico. Ich kann dir nichts mehr geben …es reicht schon so nur zum Nötigsten!»

Sie griff jetzt müde zu ihrem alten Handy. Nico antwortete sofort.

«WO IST DIE UHR, NICO!»

Stille. Dann zögerlich: «Welche Uhr?!»

«ES IST MEINE SCHÖNSTE ERINNERUNG AN DEINEN GROSSVATER, NICO!»

Sie sprach jetzt leise: «Manchmal, wenn ich traurig bin, stelle ich sie auf fünf vor zwölf. Um diese Zeit ist Max immer vom Spätdienst heimgekommen. Er ist dann immer ganz nahe bei mir…»

Am andern Ende des Handys war es still.

«Ich bringe es in Ordnung, Omi!», sagte Nico.

Am Abend besuchte er die Bar am Ende der Stadt. Luc spielte am Geldautomaten.

ER SCHAUTE HOCH, ALS NICO NEBEN IHM STAND.

«Ich brauche die Uhr wieder …UNBEDINGT. Ich gebe dir das Geld in einer Woche zurück!»

Der Spieler spuckte aus: «Sorry – schon verschachert…»

Dann wandte er sich wieder dem blinkenden Apparat zu.

Nico hämmerte mit den Fäusten auf Lucs Rücken ein: «AN WEN? – HOL SIE ZURÜCK! …ES IST VERDAMMT WICHTIG!»

Jetzt kehrte sich der Dealer langsam um.

Und schlug ihm die Faust ins Gesicht: «…du mieser, windiger Junkie… KEINER HAT MIR ZU SAGEN, WAS ICH ZU TUN HABE… KAPIERT!»

«Heee – ich will keinen Radau», rief der Wirt hinter dem Tresen.

NICOS NASE BLUTETE. DANN SAH ER DIE GOLDUHR. SIE LAG BEIM AUSSCHANK NEBEN DER KASSE.

Er überlegte nicht lange. Schnappte danach. Und jagte aus dem Lokal.

Der Dealer gab ein stummes Zeichen zu einem der Männer im Lokal.

Drei Minuten später lag Nico zusammengeschlagen im Strassengraben.

Jemand rief die Polizei.

Bei Anni surrte das Handy: «Sind Sie Frau Tobler?»

Sie rannte auf die Polizeiwache.

«Er ist tot», sagte die Polizistin mitleidig.

Anni weinte.

Sie streichelte die Hand ihres Enkels.

Darin lag die goldene Uhr.

ES WAR FÜNF VOR ZWÖLF.

Freitag, 1. Februar 2019