Von Zahnarzt-Phobien und dem süssen Trost

Illustration: Rebekka Heeb

«Das ist bereits das dritte Mal!» Die Stimme am Telefon tönt leicht angekratzt. Und Frau Berger stinkig. «…beim ersten Mal wars eine Grippe. Dann starb ihre liebe Tante. Und jetzt haben Sie einen Küchenbrand?»

Okay. Tante Gertrude liegt seit 16 Jahren in der Gruft. Über die Grippe brauchen wir nicht lange zu diskutieren. UND BEIM KÜCHENBRAND HANDELT ES SICH UM VERKOKELTE LINSEN!

Aber ich habe Schiss. Ich habe immer Schiss vor dem Moment, wo die feinen, kleinen Instrumente klirren. Und Herr Bossi sagt: «Darf ich Sie bitten, Ihren Mund ein klein bisschen weiter zu öffnen…»

MAN KANN JA NUN WIRKLICH NICHT SAGEN, DASS ICH DEN MUND NICHT WEIT OFFEN HABE.

ABER NICHT BEIM ZAHNARZT. Deshalb: Ausreden… Ausreden… Ausreden – bis die Zähne wackeln!

«Es tut bestimmt nicht weh…», sagt Frau Berger noch. Sie ist es jeweils, die meinen Kopf hält. Und mir ein Liedchen summt, während der Bohrer brummt.

Nun – die Bohrer brummen heute nicht mehr. Sie zirpen auf Höchstton. Wie in den Krimis, wenn der Mörder kommt. MIR WAREN SCHON DIE BRUMMBOHRER EIN GRÄUEL. ABER BEIM ZIRPEN BEKOMME ICH DEN FLATTERMANN! Deshalb: «Die Küche brennt ab!» Und Frau Berger: «Rufen Sie die Feuerwehr – und in zehn Minuten hocken Sie auf unserm Stuhl!»

Meine Bohrer-Phobie kommt aus jener Zeit, als der Staat in der Stadt das führte, was die Menschen «die Rossmetzgerei» nannten. Gemeint war die öffentliche «Schulzahnklinik».

O. K. DAS WAR DAMALS. Ich weiss, dass diese Schulzahnklinik heute wunderbar und modern ist. FAST SCHON EINE WELLNESS-OASE. Kinder haben eh keine löchrigen Zähne mehr. Sie wachsen zuckerlos auf. Und führen somit schon früh ein bitteres Leben.

Zu meiner Zeit haben wir Zuckererdbeeren mit den beiden Vorderschaufeln zerbissen, bis es krachte. Und wir haben die Caramels mous mit der Zunge vom Backenzahn gehievt, sodass meistens auch eine Amalgamplombe am Braunen kleben blieb. ES WAREN DIE GOLDENEN ZEITEN, DIE EINEM AUF DEN ZAHN GINGEN!

Mutter schickte uns also mit einem blauen Büchlein in die Schulzahnklinik. Im Büchlein war stets eingetragen, wann wir zum nächsten Mal zur Kontrolle erscheinen sollen. Grund genug, das Büchlein unter den Bergschuhen zu verstecken. Der liebe Vater, der bis zu seinem Tod auf seine wunderbaren Zähne und deren Zubiss stolz war, warf schliesslich am Frühstück die Frage auf: «Musst du diesen Monat nicht zur Zahnkontrolle?» Die Mutter: «Hol das Büchlein!» Ich schmierte noch etwas Konfitüre auf den Stempel mit dem Eintrag «NÄCHSTE KONTROLLE – MAI». Und log: «Erst im Oktober…»

Aber natürlich merkten sies. Sie waren ja nicht blöd.

Um auf Nummer sicher zu gehen, schickten die gewissenhaften Eltern die Omi als Kindswärterin zur Zahnmetzgerei mit. SIE MACHTE MIR AUF IHRE UREIGENE PUTZFRAUEN-ART MUT. Während der Tramfahrt nahm sie mit einem schmatzenden Geräusch die Raffel aus dem Mund. Legte sie auf ihr Taschentuch. Und nuschelte: «Dsss passiert, wennn du nissst tsssum Tsaaahnartssst gehsssst… willssst du dasss!?»

Die Omi hatte eine Reihe heller Oberzähne – so hell wie ein französisches Porzellan-Bidet. Ich hätte gerne so weisse Zähne gehabt. Aber meine tendierten schon von Kindesbeinen an mehr ins Gelbliche…

Später, als ich gross und schön war und alle Welt nicht nur den Geist, sondern auch die Zähne aufhellte, bat ich Herrn Bossi um eine entsprechende Behandlung mit Weissmacher. Er knurrte nur: «Lernen Sie zuerst einmal Ihr Zahnfleisch richtig zu pflegen. Das blutet ja wie auf dem Schlachttisch einer Pferdemetzgerei!»

DIE OMI UND ICH SASSEN ALSO AUF EINEM SCHMALEN BÄNKCHEN. UND WARTETEN DARAUF, DASS DIE NUMMER, DIE ICH VON DER KLEINEN FRAU AM EMPFANGSSCHALTER IN DIE HÄNDE GEDRÜCKT BEKAM, AUFGERUFEN WÜRDE.

Wars so weit, wars der Aufruf zur Schlacht.

«Da musst du jetzt durch!», sagte Omi und drückte mir die Hand. Und spendete Trost auf den Weg zum Gemetzel: «Wenn du tapfer bist, gehen wir danach in die EPA. Und du bekommst eine gefüllte Biscuit-Kugel mit Schoko-Überzug…»

Natürlich sagte sie es nicht so. Sie verwendete für die dunkle Kugel noch das unschöne Wort «Mohrenkopf». Heute kapitulieren sogar bestandene Fasnachts-Cliquen vor dem rassistischen Ausdruck. MIR ABER VERLIEH DIE AUSSICHT AUF DIESE KUGEL DEN NÖTIGEN SCHUB, UM MICH IN DEN ERSTEN STOCK DER SCHULZAHNKLINIK RAUFZUSCHLEPPEN …

Dort dann wieder: warten.

Es warteten etwa zehn weitere Kinder. Und man möchte meinen, dass wenn zehn Kinder zusammensitzen, ein riesiges Chaos, Geschrei und Gelächter herrschen. NICHTS DA. Alle zehn stierten auf die Türe, die sich bald öffnen würde. Und ein Fräulein (so sagte man damals noch) in weisser Schürze und mit der blauen Karte in der Hand ruft: «Hanspeter Hammel!»

Es war der Hammel, der auf die Schlachtbank geführt wurde.

Im Innern des Raums stank es nach diesen Mittelchen, die in blauen, gelben und lila Fläschchen neben dem Stuhl des Grauens auf einer weissen Porzellanauslage bereitstanden. Der Zahnarzt tupfte mit der Pinzette, die ein winziges Wattekügelchen hielt, im Stinksaft herum. Dann tupfte er das nasse Kügelchen auf den Zahn. Und wenn von der Flüssigkeit auf die Zunge tropfte, brannte es.

AN EINEM GALGEN HING DER BOHRER. UND DER ERSCHIEN UNS DICKER ALS EIN KINDERARM!

«Maul auf!» – schon baggerten sie mir den «Vierer» aus. Und füllten ihn mit diesem Stoff, den nun Herr Bossi kopfschüttelnd aus allen meinen Zähnen rauskratzt: «Unglaublich, was die da im letzten Jahrhundert alles verkleistert haben!» Auf dem Nachbarsitz schrie ein kleiner Bub, so wie nur Schweinchen schreien können, wenn sie unters Messer kommen. Er bekam eine grauenvolle Zahnspange verpasst. Zahnspangen waren damals neu. Und das Schlimmste. Jeder «Zahnspangen-Träger» wurde ausgelacht. Und bekam höhnische Bemerkungen auf den Weg: «Zahnspangen-Michel», «Käfig-Fresser!».

Heute sind es winzige metallische Tupfer auf der Schaufel. Alle sind stolz darauf. Es sind die Hermès-Taschen der Kinder.

ICH SCHLOSS DIE AUGEN. DACHTE AN DIE EPA UND DEN … IHR WISST SCHON, ALSO AN DEN, DEN MAN NICHT MEHR SO NENNEN DARF!

«Du solltest die Zähne besser putzen – sonst hast du mit 20 schon ein Gebiss!», sagte der Zahnarzt zum Schluss. Es war die sensible Psychologie der 50er-Jahre, als man auch noch mit dem Teppichklopfer züchtigte.

Und jetzt: «Liegen Sie bequem?» – Herr Bossi lächelt. Das Einzige, was man in der Praxis einatmet, ist sein wunderbares Aftershave.

FRAU BERGER BEGINNT ZU SUMMEN. Und der Bohrer auch.

Ich schliesse die Augen. Und höre die Kembserweg-Omi: «Danach gehen wir in die EPA!»

Gut. Die gibt es leider nicht mehr. Aber den… Ihr wisst ja wen… also den genehmige ich mir nachher ganz bestimmt.

Dienstag, 29. Januar 2019